Ich war sechs Jahre alt und besuchte mit meinen älteren Geschwistern unsere Großmutter. Ein 16-jähriger Nachbarsjunge lockte uns, mit ihm zur Toilette zu gehen. Die Älteste von uns verweigerte es. Wir zwei Kleinen gingen mit. Der Junge onanierte vor unseren Augen, und ich musste hinsehen, obwohl mir das so unangenehm war. Irgendwann war es vorbei. Ich wartete immer noch auf das Besondere, das er uns versprochen hatte.

Als ich 15 Jahre alt war, fuhr ich mit meinem Mofa zur Tankstelle und wollte mich ausprobieren. Ich fragte den Tankwart, ob er eine Zigarette für mich habe. Er schickte mich ins Nebenzimmer. Dann kam er nach und sperrte die Tür zu. Er hörte erst auf, als ich schon mit dem Kopf auf dem Kühlschrank lag, seinen Penis zwischen meinen Beinen spürte und aus Angst weinte. „Dann hau ab, du Zicke!“

Die Ferien verbrachte ich in einem kirchlichen Heim und half dort mit. Das Haus betreute behinderte Jungen und hatte eine Erzieherschule gegründet. An einem Abend lockte mich ein 33-jähriger Schüler dieser Erzieherschule in sein Zimmer. Ich versäumte es, rechtzeitig zu gehen und hatte Angst davor, nachts von den Schwestern auf dem Männerstockwerk entdeckt zu werden. Deshalb beschloss ich, dort zu schlafen. So teilten wir uns das Bett, aber er wollte nicht schlafen, sondern begann, an mir herumzufummeln. Ich drehte mich zur Wand und sagte ihm, dass ich das nicht wolle. Er gab keine Ruhe. Irgendwann sagte er, er wolle mir nur noch eines zeigen und dann verspreche er, mich in Ruhe zu lassen. Ich stimmte zu in der Hoffnung, dass ich danach endlich schlafen könnte. Er leckte mich und ich verspürte Lust, die ich nicht einschätzen konnte und die ich nicht wollte. Das war einfach nur schlimm, weil sich mein Körper gegen mich entschieden hatte. Am nächsten Tag sagte er zu mir, dass aus mir mal eine Frau mit häufigem Geschlechtsverkehr werden würde. Ich war katholisch erzogen und diese Vorhersage, dass aus mir mal eine Hure werden sollte, beschäftigte mich noch lange.

Weder meine Mutter noch mein Vater fragten bei mir nach, was eigentlich geschehen war.

Ungefähr ein Jahr später fuhr meine Klasse ins Theater. Maria Stuart stand auf dem Programm. Fünf Minuten bevor es dunkel wurde, sah ich, dass dieser Erzieher einige Reihen hinter mir saß. Die gesamte Heimfahrt im Bus weinte ich und hielt die Hand meiner Freundin fest, die immer nur sagte: „Druck mi ganz fest!“ Wir wussten uns keinen anderen Rat. Ein Klassenkamerad begleitete mich vom Bus nach Hause. Er sprach nicht, war einfach nur da. Zwei Wochen später erklärte meine Mutter beim gemeinsamen Mittagessen, dass sie meinetwegen von der Lehrkraft in die Schule zitiert wurde. Ich wäre drogenabhängig, meinte die Lehrkraft, hätte mich sonderbar benommen und so große Pupillen gehabt. Weder meine Mutter noch mein Vater fragten bei mir nach, was eigentlich geschehen war. Ich denke, ich hätte auch nichts gesagt.Was hätte ich auch sagen sollen – ich fühlte mich selbst schuld, weil ich mich in diese Situation gebracht hatte.

In der sogenannten Familienpause fing ich an, beim Kinderschutzbund zu arbeiten. Es war der Beginn für mich, mich zu informieren und meine Schuld loszuwerden. Dabei traute ich mich nicht, mich vor anderen missbrauchten Frauen zu outen, weil ich keinen Inzest und keine Penetration erlebt hatte. Ich dachte, dass ich ja nicht wirklich missbraucht worden sei. Dennoch fühlten sich diese Situationen, auch weil sie von drei unterschiedlichen Männern begangen wurden, missbräuchlich an. Und gleichzeitig fühlte ich mich schuldig und wusste immer, würde ich es meiner Mutter erzählen, wäre ich die Schuldige. Ich ließ mich ja verlocken und habe mich nicht gewehrt, sondern totgestellt, unfähig irgendetwas zu tun. Mit über 50 Jahren sprach ich nach einem Burnout in der Klinik mit der Ärztin über den Missbrauch. Sie fragte mich: „Wer ist schuld?“ Ich antwortete: „Vielleicht doch ich?“ Sie, energisch: „Wie alt waren Sie?“ – „15.“ – „Sie waren ein Kind, Sie waren nicht schuld!“

Solange ich in meiner Opferrolle bleibe, hängen die Täter wie eine Eisenkugel an mir. Das Vergeben hat mir geholfen: mir selbst, weil ich mich nicht schützen konnte und den Männern, weil sie es nicht besser gewusst oder gekonnt haben.
Ich bin froh, dass inzwischen gesellschaftlich klar ist, dass ein NEIN ein NEIN ist. Jetzt bin ich über 60 Jahre alt und habe meinen Frieden gefunden.