Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, kann ich mich an mehrere Momente erinnern, schöne Momente.

Ich erinnere mich an die Kindergartenzeit, als ich wegen einer Wette über den Zaun geklettert bin und wie stolz ich darüber war, dass ich es geschafft hatte. Oder als wir bei den Pfadfindern beisammen saßen und Spiele spielten. Ich erinnere mich auch an meinen ersten Liebesbrief und wie schön es sich angefühlt hat und wie unwissend ich trotz allem noch war. An den Moment, als alles sich in eine dunklere Richtung entwickelt hat, kann ich mich nicht erinnern.

Weil es Schwierigkeiten in der Schule gab, sollte ich auf eine andere Schule wechseln. Ich hatte mich darauf gefreut. Nach dem Wechsel war es jedoch nötig, dass ich Nachhilfe bekam, denn ich musste den Stoff vom Gymnasium nachholen. Der Nachhilfelehrer wurde meinem Vater vom Schulleiter empfohlen. Er war um die siebzig Jahre alt, hatte ein wissendes Lächeln und in seiner Wohnung stapelten sich Bücher. Es roch nach Staub und das wenige Licht erhellte den Raum gerade so, dass man nicht wusste, ob man die Lampe anstellen sollte oder nicht. Er war freundlich und wusste, was er tat. Ich kann nicht genau sagen, wann es anfing, aber irgendwann saßen wir immer die ersten zehn Minuten auf seiner Couch und unterhielten uns. Er hörte mir zu, als niemand anderes für mich da war. Er stellte mir Süßes hin, als er herausfand, dass ich Süßes liebe. Er nahm mich in den Arm und drückte mich an sich. Irgendwann machte er es so stark, dass es mir unangenehm wurde. Ich sagte nichts, denn er war nett und meinte es bestimmt nicht so. Die Zeiten wurden länger und er drückte fester zu, auch wenn ich versucht hatte mich wegzubewegen. Eines Tages küsste er mich. Ich weiß nicht mehr, ob er mich gleich auf den Mund küsste oder erst auf die Stirn. Er machte es mehrmals und ich habe nichts gesagt. Ich versuchte auszuweichen, er hat es ignoriert. Hatte er es mitbekommen? Mein Unschuldsgedanke würde sagen: nein, er hat es nicht gemerkt. Aber dennoch weiß ich tief in mir, dass er es mitbekommen hat.

Ich weiß, dass ich keine Verantwortung dafür trage, was mit mir passiert ist,
aber dennoch fühlt es sich irgendwie so an.

Ich ging weiterhin zu ihm. Selbst als ich nach der elften Klasse die Schule geschmissen hatte, war ich noch bei ihm. Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, erinnere ich mich nicht daran, dass ich mir je bewusst Gedanken gemacht habe, was er da eigentlich tut. Ich merkte, es war mir unangenehm, aber er meinte es ja nicht so. Er hörte mir zu und ich brauchte ihn, um eine Chance auf dem Gymnasium zu haben. Was auf eine Art kurios ist, da ich in den letzten Jahren in der Schule deswegen kaum mehr gelernt habe.

Jetzt mit Anfang 20 fiel mir dies alles wieder ein, nachdem ich wegen meiner Spielsucht in Behandlung war. Er hat den Moment ausgenutzt, in dem ich am empfindlichsten war und mich missbraucht. Auch wenn es nur Berührungen und Küsse waren, so waren diese von mir nicht gewollt, obwohl ich niemals Nein gesagt habe. Ich war ein Dreizehnjähriger, der blauäugig durch die Welt ging. Ich war unschuldig.

So sehr ich ihn dafür hassen will, kann ich es nicht. Ich wollte nichts unternehmen, als ich es meinem Vater vor einem Jahr erzählt habe. Jetzt bin ich soweit, dass es für mich okay ist, wenn andere davon wissen. Zuerst habe ich mich geschämt, denn ich wollte immer am Steuer meines Lebens sein, konnte so etwas aber nicht verhindern. Ich weiß, dass ich keine Verantwortung dafür trage, was mir passiert ist, aber dennoch fühlt es sich irgendwie trotzdem so an.

Wenn ich mich heute anschaue, sehe ich vieles, das mich verändert hat. Seit ich vor eineinhalb Jahren einen Therapeuten nach Hilfe gefragt habe, ging es aufwärts. Nicht immer einfach, aber immer aufwärts. Wenn man mich fragen würde, wie man es hätte verhindern können, würde ich sagen: Sprecht mit Euren Kindern, Partnern, Eltern, Freunden. Seid ehrlich und hört einfach zu. Zeigt ihnen, dass sie etwas bewirken und wichtig sind.