Die Geschichten auf diesem Portal enthalten Schilderungen, die verstörend wirken können. Einige Worte oder Beschreibungen können negative Erinnerungen und unangenehme Gefühle auslösen. Falls Sie das Bedürfnis haben, mit jemanden darüber zu sprechen, nutzen Sie bitte die Angebote zur Beratung & Hilfe.
Alles begann in einer Garage, es gab kein Auto dort, sondern künstliche Dunkelheit. Der alte Mann schloss das große Tor wie eine Mausefalle für sein „kleines Geheimnis“. Sie war viel zu klein, um irgendetwas zu verstehen. Wenn sie versuchte zu entkommen, schlossen sich die knochigen Hände wie Handschellen um ihre zarten Handgelenke.
Große Menschen benutzten kleine Menschen und taten völlig unverständliche Dinge, die nicht infrage gestellt werden durften, das hatte sie verstanden. Die Realität hieß hilflos, schutzlos zu sein, benutzt zu werden und darüber schweigen zu müssen. Sie bekam Süßigkeiten als Belohnung. Süßigkeiten waren sehr lecker und es gab sie sonst fast nie, also schwieg sie lange. Sie wurde oft von der überlasteten Mutter zu dem netten und großzügigen Nachbarn geschickt, wo es viele Obstbäume gab, dessen erwachsene Kinder längst ausgezogen waren und der so freundlich zu kleinen Kindern war. Die Mutter verstand nicht, warum sie dort nicht hingehen wollte, so praktisch, nur auf der anderen Seite der Straße, so gute Nachbarn, die ihr Obst so nett teilten in dieser eher noch schwierigen Zeit in den 1960er-Jahren. Es war schwer, Anschluss zu finden in der Kleinstadt als neu zugereister Flüchtling mit zwei kleinen Kindern. Die Eltern arbeiteten und arbeiteten und arbeiteten. Das kleine Mädchen saß unter dem Küchentisch und streichelte die müden Beine ihrer Mutter, um irgendwie nützlich zu sein. Irgendwann erzählte sie, was dort in der Garage geschah, um nicht wieder dorthin gehen zu müssen. Die Mutter wurde ganz weiß im Gesicht, sie musste sich am Herd festhalten, um nicht hinzufallen, und die Tochter spürte, dass alles ganz schlimm war, viel schlimmer, als sie gedacht hatte.
Große Menschen benutzten kleine Menschen und taten völlig unverständliche Dinge, die nicht infrage gestellt werden durften.
Die Mutter sagte, darüber wollen wir schweigen, das können wir der armen Frau nicht antun, aber du brauchst dort nicht mehr allein hinzugehen. Das Kind verstand, dass das Geheimnis so schlimm war, dass man niemals darüber sprechen durfte. Das Kind lernte in der Dunkelheit von Scham und Schuld zu überleben. Sie wurde ein Nachtschattengewächs, die Schatten waren ihre Normalität, ihre vertraute Umgebung. Menschen, die sich an der Zerbrechlichkeit dieser Schattengewächse labten, erkannten ihre grenzenlose Verletzlichkeit hinter der scheinbar heilen Fassade und so wurde sie mit 13 von einem Arzt befummelt, mit 18 von einem Skilehrer vergewaltigt und mit 25 bei einem Vergewaltigungsversuch auf dem Weg zur Arbeit schwer verletzt. Erst zu diesem Zeitpunkt war sie bereit, lieber zu sterben bei dem Versuch sich zu wehren und zu kämpfen, als sich weiterhin benutzen zu lassen. Vorher hatte sie keine Kraft gehabt, Nein zu sagen. Es war zu selbstverständlich, benutzt zu werden und währenddessen innerlich zu emigrieren oder zu dissoziieren. Sie hatte sich durch Depressionen, Essstörungen und psychische Ausnahmezustände gekämpft und irgendwie überlebt.
Sie malt, schreibt und komponiert Lieder, verfasst Gedichte und Texte, schloss zwei Berufe mit Staatsexamen ab und arbeitete in drei Berufen national und international erfolgreich. Sie durchlief drei Therapien. Sie bekam eine Tochter, die sie allein aufzog. In ihrer Kreativität kann sie Zerbrechlichkeit, Zartheit und die verworrenen Gefühle vereinen und integrieren. Als es Probleme mit ihrer Tochter gab, vertraute sie ihre Lebenshintergründe den Therapeuten in der kinderpsychosomatischen Klinik an. Diese zogen daraufhin den Schluss, dass sie aufgrund dieser Erlebnisse nicht in der Lage sein könne, ihr Kind adäquat zu betreuen und empfahlen, es in Fremdbetreuung zu geben. Sie verließ die Klinik und ging freiwillig in eine familienpsychiatrische Einrichtung, um diese Einschätzung zu relativieren, was auch gelang. Allerdings war diese letzte Verunglimpfung vom Opfer zum selbst schuldigen, unfähigen und irreparabel beschädigten und damit dauerhaft entwürdigten Menschen eine der härtesten. Sprach man ihr damit dort doch das Menschenrecht ab, trotz allem eine fürsorgliche Mutter sein zu können.
Sie selbst arbeitet im Kindergarten und erstellt gerade ein Konzept zum Kinderschutz für die Einrichtung, die sie leitet und aufgebaut hat. Sie pflegt einige langjährige und gute Freundschaften, ist gern in der Natur und kann sich in Gruppen zeitweilig geborgen fühlen. Sie ist kein glücklicher, aber ein meist optimistischer und zufriedener, sehr engagierter und selbstständiger Mensch und ein kreativer Problemlöser mit hoher Resilienz. Nach mehr als einem halben Jahrhundert ist sie ein Veteran in den Strategien des Überlebens. Ihr Leben war noch nie normal, was immer das auch heißen mag, und wird es nie sein. Aber sie hat sich ihre Würde und ihren Stolz zurückerobert, als Frau, als Mutter, als Mensch, als Künstlerin, als Krankenschwester, als Pädagogin, als unverdrossener Träumer und Idealist und als Suchende.