Ich bin Anfang der 1970er-Jahre in der DDR geboren. Mein Bruder war mit 15 Jahren auf bis heute nicht geklärte Art ums Leben gekommen. Meine Familie zerbrach an diesem Schicksalsschlag. Wir alle hätten in dieser Situation Unterstützung gebraucht. Gab es nicht. Mein Bruder war nicht nur tot, sondern wurde zusätzlich auch in der Familie totgeschwiegen.

Diese Situation bereitete den Boden meines Bedürfnisses nach Zuwendung. Als ich 14 Jahre alt war, nutzte der Mann meiner Cousine dies für sich aus. Ich hatte schnell begriffen, dass dieser Mensch bezahlt werden möchte. Bezahlt für seine Zeit, in der er für mich da ist, sich mit mir unterhält, Hausaufgaben macht. Meine Bedürftigkeit nach Nähe war so groß, dass ich mich nicht abwenden konnte. Nach diesen Treffen verletzte ich mich oft selbst. Bald fuhr dieser Mann in seinem Auto im Ort rum. Sah er mich, überredete er mich einzusteigen. Wir fuhren dann zu einer abgelegenen Gegend außerhalb des Ortes. Dort benutzte er mich. Meist dauerte der gesamte Vorgang wenige Minuten. Dann fuhr er mich zurück in die Ortschaft und ließ mich aussteigen. Bis zum nächsten Mal. Auch wenn ich nicht wollte, endete es immer genau so, was wieder zu Selbsthass führte.

Als ich in die zehnte Klasse kam, interessierte sich auch mein Musiklehrer auf diese Art und Weise für mich. Ab da konnte ich mich nicht mehr frei im Ort bewegen. Da ich keinerlei Idee hatte aus dieser Situation herauszukommen, simulierte ich Bauchschmerzen. Dreimal kam ich deshalb ins Krankenhaus. Diagnostiziert wurden eine Blinddarmreizung und eine Magenverstimmung. Niemand, wirklich niemand kam auch nur auf die Idee Fragen zu stellen. Der Mann meiner Cousine entwickelte Pläne, wie das alles weiterhin heimlich bleiben konnte. So sollte ich nachmittags auf seine Kinder aufpassen. Wurden die Kinder abends von der Mutter zu Bett gebracht, passierte es wieder.

Insgesamt sollten es fünf Jahre werden, ehe ich mich aus dieser Abhängigkeit befreien konnte.

Insgesamt sollten es fünf Jahre werden, ehe ich mich aus dieser Abhängigkeit befreien konnte. Vier Jahre später fand ich den Mut darüber zu sprechen. Aber ein Anwalt riet wegen der geringen Aussichten auf Erfolg von einer Anzeige ab. Als ich den Täter damit konfrontierte, drohte er mir mit Gewalt und wies mich darauf hin, dass meine kleine Nichte im Ort wohnen würde. Ein paar Wochen später brach ich auf dem Weg nach Hause zusammen. Ein Psychiater wies mich ins Krankenhaus ein.

Das ist jetzt über 20 Jahre her. Mittlerweile bin ich Mutter von drei Kindern. Seit drei Jahren mache ich eine Traumatherapie und verstehe dadurch rückblickend vieles. Auch dass meine Reaktionen ganz normale Reaktionen waren. Dort gelang es mir auch zu begreifen, wie sehr sich manches von damals noch bis in mein gegenwärtiges Leben hineinzieht. Ich litt darunter, manches Mal meine Kinder nicht spüren zu können. Diese Gefühlstaubheit setzte mir zu. Auseinandersetzungen mit meinem Mann gestalteten sich oft unangemessen. Im Nachhinein fehlten mir dann die Erinnerungen. Im letzten Jahr meldete sich der Mann meiner Cousine über eine Internetplattform bei mir. Er wollte mal hören, wie es mir geht. Ein Unrechtsempfinden schien er dabei nicht zu haben. Zum Glück trennen uns hunderte Kilometer und ich fühle mich in allem von meiner Therapeutin unterstützt.