Ich war 16 Jahre alt, als ich sexuell missbraucht wurde. Der Täter war über 60 Jahre alt. Ich hatte mir viel Mühe gegeben, ihn kennenzulernen, denn ich habe ihn bewundert, aber auch sehr bemitleidet. Er war KZ-Überlebender, seine Eltern waren ermordet worden. Er berichtete in den 1980er-Jahren öffentlich über seine Erfahrungen. Ich hatte damals ein sehr übertriebenes Verständnis von Kollektivschuld und fühlte mich stellvertretend für alle Deutschen, ihm und allen anderen Opfern gegenüber schuldig.

Eines Tages fragte er mich, ob ich nicht Lust hätte, ihn mal zu Hause zu besuchen. Ich freute mich. Ich stellte mir ein Kaffeetrinken vor, mit Gesprächen über Politik und Geschichte, wie auch immer. An diesem ersten Nachmittag fragte er mich stattdessen, ob ich auf den Weihnachtsmarkt wollte. Warum nicht? Mir wurde es unangenehm, als er anfing, meine Hand zu halten. Aber ich war unsicher, was das bedeuten sollte. Er redete ohne erkennbaren Anlass über sexuelle Themen, denen ich auszuweichen versuchte. Am Ende des Nachmittags gab er mir bei sich zu Hause einen Zungenkuss. Ich sagte ihm, dass ich so eine Beziehung nicht wollte. Aber er antwortete nur, dass er mir das nicht glaube. Er wollte mich wieder treffen. Und er bat mich, über das, was wir gemacht hatten, zu schweigen.

Ich war entsetzt über das, was passiert war, und fragte mich, was ich tun sollte, wenn er beim nächsten Treffen weitermachen würde. Leider kam ich zu dem Schluss, dass ich nicht das Recht hätte, ihm, der das Konzentrationslager überlebt hatte, irgendetwas zu verweigern. Und dass er so viel gelitten hatte, dass ich alles tun sollte, was ihm irgendwie helfen könnte. Als ich ihn das nächste Mal besuchte, machte er tatsächlich weiter. Ich kann nicht mehr sagen, wie oft er mich missbraucht hat. Danach unterhielten wir uns immer. Er zollte mir Respekt für mein politisches Engagement und ich bewunderte seine Aktivitäten.


Meine Geschichte hat ein Happy End.

In den Sommerferien verliebte ich mich in einen 20-jährigen Jungen. Wir kannten uns schon länger, hatten viel und oft miteinander gesprochen. Nachdem er mit mir ausgegangen und wir uns nähergekommen waren, wurde mir klar, dass ich ihn liebte. Und das machte es mir unmöglich, den Missbrauch weiter zu erdulden. Ich ging zu dem Täter und sagte, dass ich Schluss machen möchte. Er bettelte mich an, ein letztes Mal mit ihm Sex zu haben, aber ich hatte das Gefühl, dass es nie aufhören würde, wenn ich das jetzt zuließ. Also sagte ich Nein.

Später vertraute ich mich dem Jungen an, in den ich mich verliebt hatte. Der Junge hörte mir zu, fragte nach und nahm mir die Angst vor den Erinnerungen. Leider konnte er mir aber die Scham nicht nehmen. Deshalb habe ich zwanzig Jahre lang mit keiner weiteren Person über den Missbrauch gesprochen. Ich habe ein- oder zweimal sehr vage Andeutungen gegenüber meiner Mutter gemacht, bei Nachfrage aber sofort alles zurückgenommen. Ich habe mich furchtbar geschämt. Ich glaube, dass diese zwanzig Jahre viel zu lang waren und die Scham und die Angst verschlimmerten.

Vor meiner Psychotherapieausbildung hatte ich mir fest vorgenommen, in der Selbsterfahrung und auch in allen anderen Veranstaltungen auf keinen Fall auch nur eine Andeutung zu machen, dass es da etwas geben könnte. Niemand hat in meiner Therapieausbildung davon erfahren, dass ich missbraucht worden bin und ich bin mir ziemlich sicher, dass auch keiner etwas geahnt hat.

Schließlich vertraute ich mich einer Supervisorin an. Ich halte es für keinen Zufall, dass ich frisch approbiert war, als ich ihr die ganze Geschichte offenbarte. Der Druck war weg. Niemand konnte mich mehr dazu zwingen, etwas über mich selbst preiszugeben. Ich musste keine Selbsterfahrungsseminare mehr machen. Danach begann ich, ganz langsam mit ausgewählten Kolleginnen über den Missbrauch zu sprechen.

Meine Geschichte hat ein Happy End. Ich lebe ein glückliches und ausgefülltes Leben. Ich bin seit 22 Jahren glücklich verheiratet. Wir haben drei wundervolle Kinder, die ich über alles liebe. Ich übe den schönsten Beruf der Welt aus: Ich bin Psychologische Psychotherapeutin. Mir ist es immer noch wichtig, den Opfern von Verfolgung beizustehen, und so habe ich in meinem Beruf von Anfang an einen Schwerpunkt auf die Behandlung von Flüchtlingen gelegt. Die dafür erforderlichen Kenntnisse in Traumatherapie helfen mir auch, Betroffene von sexuellem Missbrauch zu behandeln und damit meinen eigenen Erfahrungen im Nachhinein einen Sinn zu geben.