Zunächst einmal ist es eine immense Erleichterung für mich, dass es diese Kommission jetzt endlich gibt. Nach so was habe ich mich schon lange gesehnt. Und es ist gut, dass man auch als Angehörige berichten darf, nicht nur als direkt Betroffene.

Unser früherer Nachbar zog Anfang der 1970er-Jahre mit seiner Familie in das Nachbarhaus. Wir freundeten uns an und verbrachten zusammen die Sommerferien. Der Nachbar fotografierte uns Kinder ständig, aber das waren keine schönen Erinnerungsfotos an den Urlaub. Es ging ihm um nackte Körper. Wir Kinder spürten, dass da was nicht stimmte und es übergriffig war. Auf den Fotos sieht man lächelnde Kinder, die im Sand spielen, aber irgendetwas stimmte da definitiv nicht. Bei den Fotos waren immer mehrere Erwachsene zugegen. Ich erinnere mich, dass wir Kinder oft unser Unbehagen bei den Aufnahmen ausdrückten, dem Mann auswichen. Der Mann hatte eine perfekte Beobachtungsgabe und wache Intelligenz. Eine Schwachstelle in seinem Gegenüber verstand er sofort und nutzte sie aus. Vielleicht hat sich niemand getraut, ihn in die Schranken zu weisen, denn allein hier schon hätte man uns Kinder schützen können. Es herrschte damals auch so eine Art Entdeckung der freien Sexualität. Deswegen wurden die Nacktaufnahmen nicht unterbunden. Die ganze Epoche war so, dass kein Erwachsener eingriff. So ein Mist.

Ich kann mir vorstellen, dass manche Geschwister von Opfern mit diesem Gefühl von Schuld zu kämpfen haben und damit ernst genommen werden wollen.

Ich habe ein vages Bild von sexuellem Missbrauch, in dem ich zuschaue, wie der Mann meiner Schwester seinen Penis zeigt. Tatsächlich erzählte meine Schwester meiner Mutter von einem Missbrauch im Badezimmer, aber die konnte es einfach nicht glauben. Erst ein paar Jahre später, nach einem Artikel über dieses Thema in einer Zeitschrift, horchte meine Mutter auf. Sie befragte meine Schwester und konfrontierte den Mann mit der Tat. Es gab Gespräche und Briefwechsel zu dem Thema.

In einem späteren Brief an den Mann forderte meine Schwester die Fotos und Negative zurück und schreibt von Missbrauch, der über Jahre gedauert hat. Den Brief habe ich erst jetzt zum ersten Mal gesehen. Leider wurde der Mann nie angeklagt, es gab keine polizeiliche Untersuchung, nur mutige und wütende Versuche meiner Mutter, das Ganze zu klären. Dabei stieß sie auf eine Mauer und Bemerkungen wie: „Das war doch alles nur Spaß“ und „Warum bist du so prüde“. Ich habe mir immer ausgemalt, alles der Polizei zu melden, aber da griff schon die Verjährung.

Wenn ich jemanden sehe, der dem Mann ähnelt, zucke ich innerlich zusammen und fühle mich unterlegen. Und ich fühle mich schuldig, meine Schwester nicht geschützt zu haben. Immer wenn ich von diesem Schuldgefühl spreche, ist die Antwort: „Du brauchst dich nicht schuldig fühlen, das war nicht deine Aufgabe, sie zu schützen.“ Das stimmt zwar, spielt die Stärke des Schuldgefühls aber runter auf eine Ebene von etwas, das überflüssig ist und nicht ernst genommen zu werden braucht. Das Schuldgefühl ist aber da. „Kratzen, beißen, spucken, treten“, geht mir wie ein Mantra durch den Kopf, bei der Frage, wie ich denn damals hätte eingreifen können.

Seit dem Tod des Mannes versuche ich Fakten zu sammeln und sehe alte Unterlagen durch. Mein Ziel ist, damit irgendwann mal abzuschließen, das Ganze loszulassen. Auch wenn ich selbst nicht betroffen bin, hat der Fall doch mein ganzes Leben mitbestimmt und tut es immer noch. Ich kann mir vorstellen, dass manche Geschwister von Opfern auch mit diesem Gefühl von Schuld zu kämpfen haben und mit diesem Gefühl ernst genommen werden wollen. Es ist immer gut zu wissen, dass man nicht alleine ist.