Ich war ungefähr acht Jahre alt, als es anfing. Der erste Täter war der Nachbar. Die Familie war neu hinzugezogen, sie hatten eine jüngere Tochter. Wir freundeten uns an. Als meine Mutter beruflich wieder einsteigen wollte, übernahmen die Nachbarn häufig meine Versorgung. Meine erste Erinnerung ist, dass der Nachbarsvater mir geholfen hat, die Druckknöpfe an meinem Body zu schließen – ganz harmlos. Irgendwann hat es dann angefangen. Zuerst fasste er mich beiläufig an, irgendwann ließ er mich Oralverkehr an sich ausführen.

In den nächsten Jahren wurden andere Männer eingeladen. Ich wurde auch stundenweise verliehen, es gab einzelne Männer und auch gemischtgeschlechtliche Gruppen welche mich „nutzten“. Ich und zwei weitere Mädchen mussten alle möglichen sexuellen Handlungen ausführen. Ich sage „musste“, denn eine acht- bis 13-Jährige hat hier keinen freien Willen. Im Laufe der Zeit musste man mir nicht mehr sagen, was ich zu tun hatte. Orale Befriedigung von Erwachsenen wurde Normalität. Analverkehr war vaginalem Verkehr gegenüber zu bevorzugen. Männer, die sanfter waren, waren gegenüber solchen zu bevorzugen, die grob waren oder wütend wurden. Es war Normalität. Es wurden Filme von mir gedreht, ich gehe davon aus, dass diese auch gehandelt wurden, weiß es aber nicht.

Die Nachbarsmutter wusste davon. Manchmal zog sie mich an, damit ich „gut“ aussehe für die Männer, manchmal machte sie auch mit. Irgendwann war einer dabei, der jünger war als die anderen. Er war ca. 25–35 Jahre alt, auch er führte sexuelle Handlungen an mir aus. Aber er schien mich als Wesen wahrzunehmen und nicht nur als Objekt. Ich habe mich an diese „Zuneigung“ geklammert.

Es gibt für mich kaum Unterstützungsangebote, die unabhängig von meinem Berufsalltag sind.

Ich weiß nicht genau, warum der Missbrauch aufhörte. Die Nachbarsfamilie zog irgendwann weg, die Nachbarseltern ließen sich scheiden. Vielleicht bin ich einfach irgendwann zu groß geworden. Ich wurde verhaltensauffällig. Machte Ergotherapie, Logotherapie, IQ‐Testung, Legasthenie‐Therapie. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass jemals jemand wirklich versucht hat herauszufinden, was los war. Meine Eltern waren mit sich beschäftigt und mit ihrem eigenen Unglück in ihrer Ehe. In der Schule wechselte ich mehrfach die Klasse, ich musste vom Gymnasium auf die Realschule. Ob es langfristige berufliche Konsequenzen hatte, kann ich nicht sagen. Wenn ich aber schaue, wann es schulisch schwierig wurde, dann fällt dies in genau diese Jahre und es erscheint als könnten diese speziellen Nachmittagsaktivitäten die Schwierigkeiten erklären.

Ich mache nun seit eineinhalb Jahren Psychotherapie, da ich an einer Depression litt. Im Rahmen dieser Therapie begann das Erinnern, die Flashbacks, die Assoziation. Das Überzeugtsein. Die Erinnerungen, die in Wiederholungschleife auf mich einströmen und mich manchmal konsumieren. Zeitgleich sind sie wahr und unannehmbar. Das Wegschieben um Ruhe von der Aufdringlichkeit der klaren Bilder zu haben. Dieser Bericht stellt eine Momentaufnahme des Erinnerns dar. Vor mir liegt noch ein weiter Weg und obwohl das Erinnern viel Leid mit sich bringt, geht es mir gleichzeitig im Gesamten deutlich besser.

Ich bin selbst Sozialarbeiterin und arbeite im Jugendamt. Es gibt für mich kaum Unterstützungsangebote, die unabhängig von meinem Berufsalltag sind. Ich kann nicht zu einer Beratungsstelle gehen und in einer Woche dort als Betroffene und in der nächsten in meiner professionellen Rolle vorsprechen. Mir wird bewusst, wie vielen Frauen aus den therapeutischen, sozialpädagogischen und erzieherischen Berufen es so gehen muss wie mir. Ausgeschlossen aus dem Hilfesystem, weil man selbst Teil des Hilfesystems ist.