Hier mein Bericht über die Dinge, die in meiner Kindheit geschahen. Ich wurde in den 1950er-Jahren in der DDR geboren. Wir waren fünf Geschwister.

Meine Eltern ließen sich scheiden, als ich drei Jahre alt war. Ich habe keinerlei Erinnerungen an meinen Vater, der sich völlig von seinen Kindern zurückzog. Während einer schweren Erkrankung meiner Mutter kamen wir Kinder ins Kinderheim. Ich war dort anderthalb Jahre, habe aber keine schlechten Erinnerungen daran, ich fühlte mich dort wohler als in der Familie. Meine Mutter war gewalttätig und schlug uns Kinder.

Meine Großmutter half der Familie. Wir besuchten sie regelmäßig. Dabei ließ keine Gelegenheit aus, uns mitzuteilen, dass sie nur meinen älteren Bruder leiden konnte. Wir anderen sollten uns ihrer Meinung nach durch Arbeit nützlich machen oder uns völlig auflösen. Eines Tages saß in ihrem Wohnzimmer ein mir völlig fremder Mann. Man sagte, ich solle Onkel zu ihm sagen, er wohne jetzt bei der Oma. Heute nenne ich ihn für mich nur noch den "alten Mann".

Immer wenn ich bei meiner Oma war, saß der alte Mann nur da. Er interessierte sich nicht für uns Kinder. Er arbeitete auch nicht. Nach vielen Monaten sprach er plötzlich mit mir. Er habe ein Geheimnis. Er würde es mir gerne zeigen, wenn ich Geheimnisse bei mir behalten kann. Ich war sehr aufgeregt, weil noch nie ein Erwachsener mit mir so gesprochen hat und mich wichtig fand. Das Geheimnis waren ein paar selbstgezeichnete Bildchen, mit denen ich nichts anfangen konnte. Heute weiß ich, dass es Darstellungen mit pornographischen Inhalten waren. Trotz meiner Enttäuschung wollte ich das Geheimnis bewahren, zumal der alte Mann mich weiter unter Druck setzte. Er käme ins Gefängnis und ich wieder ins Heim, wenn ich das Geheimnis jemandem verrate. Wem sollte ich das auch verraten. Es war ja niemand da, der mir zuhören würde. Wochen später musste ich an seine Hose fassen.

Der alte Mann baute seinen manipulativen Einfluss auf mich aus, bis er mich sexuell missbrauchte. Der erste Missbrauch fand im Keller meiner Großmutter statt. Ich versuchte mich zu wehren, war aber mit meinen fünf Jahren viel zu schwach. Ich versteckte mich wie ein kleines Tier unter dem Küchentisch meiner Oma und weinte und krümmte mich vor Schmerzen. Ich verstand nicht, warum die Sonne weiter schien. An diesem Tag hatte sich meine Weitsicht vollständig verändert.

Ich versuchte, mich vor dem alten Mann zu versteckten, vor ihm zu fliehen. Manchmal hatte ich damit Erfolg, manchmal auch nicht. In dieser Zeit hat mir am meisten geholfen, dass ich mich im Kindergarten wohl und behütet fühlte. Als ich eingeschult wurde, fühlte ich mich ebenfalls in der Schule und im Hort sicher. Darum ging ich gern dahin. In der Familie war das anders. Insgesamt konnte ich mich nicht öffnen, versteckte und spaltete das Geschehen in mir ab, wurde für die Außenwelt zu einem unsichtbaren Kind. Ich kannte und vertraute niemandem, mit dem ich über den realen Missbrauch hätte sprechen können. Ich hatte auch keine Worte, keine Begrifflichkeiten dafür.

Das vorherrschende Gefühl meiner Kindheit
war das einer grenzenlosen, sehr schmerzhaften Einsamkeit.

Da wir als eine Art Problemfamilie bekannt waren, kamen Frauen vom Jugendamt, die nach dem Rechten sehen sollten. Sie waren in der Regel sehr nett und freundlich, waren mir aber nicht hilfreich. Sie erfuhren nichts von mir, auch der alte Mann war ja nett und freundlich. Heute denke ich, dass meine Mutter und meine Großmutter hätten wissen müssen, dass etwas nicht in Ordnung war. So erfuhr ich eines Tages, dass ich allein mit dem alten Mann über das Wochenende zu seiner Schwester fahren sollte. Das ängstigte mich so stark, dass ich mich weinend hinter dem Ofen versteckte. Ich wurde von meiner Mutter mit Gewalt hinaus gezogen und verprügelt. Niemand fragte, warum ich so erschreckt und widerspenstig war. Ich wurde ihm übergeben. Selbst schon im Zug konnte er die Finger nicht von mir lassen. Mit denselben Händen, mit denen ich ihm in die Hose fassen musste, musste ich anschließend mein Brot essen.

Im Alter von 13 Jahren fing mein ältester Bruder damit an, sexuell übergriffig zu werden. Er war damals 16 Jahre alt. Er meinte, es sei sein Recht, da er ja der Mann und Vaterersatz in der Familie sei. In diesem Alter reagierte ich mit völliger Abspaltung innerhalb des Geschehens. Ich verließ  meinen Körper und stellte mich neben mich, beobachtete mich aus der Ferne. Nein sagen konnte ich damals nicht, ich wusste gar nicht, dass ich das darf. Dieser Missbrauch durch meinen Bruder dauerte zwei Jahre, bis er zur Armee eingezogen wurde. 

Erst als ich 40 Jahre alt war, sprach ich zum ersten Mal mit einer anderen Person über den Missbrauch in meiner Kindheit. Als mir klar wurde, dass ich Hilfe brauchte, empfahl mir meine Hausärztin eine Psychotherapeutin. Ihr gegenüber konnte ich mich öffnen. Ich nahm insgesamt zehn Jahre lang therapeutische Hilfe in Anspruch. Sie hat mir wirklich geholfen, bis heute bin ich ihr dankbar! Schließlich sprach ich auch mit meiner Mutter über den Missbrauch. Sie berichtete mir Ungeheuerliches: Der alte Mann saß bereits im Nationalsozialismus wegen Kindesmissbrauchs im Gefängnis. Er wurde deshalb nicht zum Wehrdienst eingezogen. Sie und meine Oma wussten das auch. Aber meine Mutter meinte lapidar: „Woher sollte ich denn wissen, dass er das wieder macht?“ Bei diesem Gespräch kam heraus, dass sowohl meine Schwester als auch meine Cousine betroffen waren.

Jetzt fühle ich mich psychisch stabil. Sicherlich sind nicht alle Folgen behoben. Ich bemerke meine Einschränkungen in Anbetracht meiner schweren Erkrankung. Die ständige Fremdbestimmtheit bei Untersuchungen, bei den Operationen und notwendige pflegerische Maßnahmen setzen mir sehr zu. Ich habe immer wieder Angst, dass in diesen Maßnahmen mehr geschehen könnte, als initiiert. Es fällt mir auch schwer, Hilfe anzunehmen oder Schmerzen zu bemerken, zu graduieren und damit auch angemessen zu behandeln.

Ich habe als 20-Jährige noch eine Ausbildung zum Wirtschaftskaufmann mit Erfolg gemeistert, die während der Arbeitszeit und kostenlos stattfand. Ich wollte aber immer studieren. Meine Mutter erlaubte mir nicht, dass Abitur zu machen. So habe ich erst nach der Maueröffnung auf dem Abendgymnasium nach dreieinhalb Jahren das Abitur abgelegt und dann an der Fern-Uni Hagen begonnen, Politikwissenschaften zu studieren. Aber nun pausiere ich und muss mich erst einmal um meine Gesundheit kümmern. Ich werde es schaffen! Ich habe noch immer wenig Kontakte zu anderen, bin kaum in der Lage, Freundschaften zu pflegen. Ich neige noch immer dazu, mich zu verstecken.

Das vorherrschende Gefühl in meiner Kindheit war das einer grenzenlosen, sehr schmerzhaften Einsamkeit. Dieses Gefühl habe ich völlig verloren, ich kann inzwischen auch gut mit dem Alleinsein umgehen. So schlimm wie damals, wird es nie mehr werden, das weiß ich. Seit 14 Jahren lebe ich in einer glücklichen Gemeinschaft mit einer sehr liebevollen Frau. Ich hätte es nicht besser treffen können.