Ich komme aus einer psychisch kranken Familie und wurde als Kind vernachlässigt und misshandelt. Von meinem 9. bis zum 15. Lebensjahr wurde ich von einem Nachbarsjungen missbraucht.

Ich war seiner Familie sehr zugetan, weil sie sehr lieb zu mir waren. Diese Familie war meine Wahlfamilie. Ich verstand mich gut mit beiden Kindern, die älter als ich waren. Wir haben viel miteinander gespielt, bis der Junge in die Pubertät kam. Beim ersten Übergriff war er 11 und ich 9 Jahre alt. Er manipulierte mich emotional und meinte, wenn ich nicht mitmache oder irgendjemandem etwas davon sage, dürfe ich nie wiederkommen. Ich suchte vermehrt den Kontakt zu seiner älteren Schwester und der Mutter der Familie, was mir aber nicht immer gelang. In unserer Clique erzählte er stolz, er hätte mit mir geschlafen und behandelte mich abschätzig vor den anderen. Aus Angst, alleingelassen zu werden und dass mir niemand glauben würde, äußerte ich mich nicht dazu. Außerdem schämte ich mich sehr.

Bisher wissen meine engsten Freunde und meine Therapeutinnen darüber Bescheid. Was mich ärgert, ist, dass ich ein sehr verhaltensauffälliges Kind war und mir niemand geholfen hat. Ich kann nicht alles auf den Missbrauch schieben, da ich auch so schon aus schwierigen Verhältnissen stamme. Ich war aggressiv, vor allem autoaggressiv und habe mich geritzt, früh angefangen Alkohol und Drogen zu konsumieren. Durch die häusliche Gewalt kam ich eingeschüchtert in die Schule und hatte starke Leistungsschwankungen.

Das Jugendamt hätte viel früher eingeschaltet werden müssen.

Meine Lehrer und Lehrerinnen in der Schule haben alle weggeguckt. Ich denke, dass sie daraufhin geschult werden müssen. Ich kann verstehen, dass sie vielleicht unsicher waren, wie sie mit mir oder der Situation umgehen sollten, aber das Jugendamt hätte eingeschaltet werden müssen. Das ist erst passiert, als ich 18 Jahre alt war, weil ich dann eine Lehrerin am Gymnasium hatte, der ich aufgefallen bin. Wäre das früher passiert, hätte mir eher geholfen werden können.

Mir ist wichtig, dass es mehr Beratungsstellen gibt, auch für Kinder. Ich komme aus einer Kleinstadt, in der es keine Anlaufstelle für Kinder gab. An der Schule hatten wir damals keine Schulpsycholog:innen. Ich hätte mir gewünscht, dass sexuelle Selbstbestimmung in der Schule ein größeres Thema gewesen wäre. Denn es war mir lange nicht bewusst, dass das, was mir passiert ist, Missbrauch bedeutet.