Früher fiel es mir schwer, Worte zu finden für das Unbegreifliche, was jahrelang in meiner Kindheit mit mir passierte. Mittlerweile weiß ich, dass es sexueller Missbrauch war.

Da sich meine Eltern früh scheiden ließen, verbrachten meine Schwester und ich jedes zweite Wochenende bei meinem Vater. Oft hatte er einen Freund zu Besuch. Als ich acht Jahre alt war, schenkte mir dieser einen „Ehering“ mit den Worten „Ich liebe dich. Wenn du groß bist, werde ich dich heiraten.“ Ich war so glücklich. Endlich gab es jemanden, dem ich wichtig war. Da meine Eltern sehr mit sich und ihren Problemen wie Sucht und Arbeitslosigkeit beschäftigt waren, muss ich, im Nachhinein betrachtet, das perfekte Opfer gewesen sein. Emotional vernachlässigt, aus einer finanziell schwachen Familie und somit empfänglich für Geschenke, die mich erst gefügig machen und dann zum Schweigen bringen sollten.

Das erste Mal wurde ich im Alter von acht Jahren von einem Freund meines Vaters missbraucht. Mein Vater lag im Rauschzustand im Zimmer nebenan auf dem Sofa. Ich saß auf dem Schoß seines Freundes vor dem Computer. Er schob die Hand unter meinen Schlafanzug und berührte meinen Intimbereich. Als ich mich nicht wehrte, drang er mit seinen widerlichen Fingern in mich ein. Sein Lachen währenddessen werde ich nie vergessen. Bei diesem Übergriff habe ich meinen Körper verlassen. Ich schwebte über dem Geschehen und versuchte zu begreifen, was hier gerade passierte.

Da er sich nun auch mit meiner Mutter anfreundete und somit in den Sommerferien auf uns aufpasste, besuchten wir oft ein Schwimmbad. Beim Umziehen „half“ er mir immer, obwohl ich das schon alleine konnte. Jede Gelegenheit wurde genutzt, um mich zu berühren. Auch als ich auf seinem Schoß in der Sauna oder im Dampfbad sitzen musste. Immer waren andere Badegäste um uns herum. Sieht keiner, was mit mir passiert? Oder will es keiner sehen?

Einmal war ich mit ihm in einem separaten Becken, in dem keine anderen Besucher waren. Das Besondere an diesem Becken war, dass man unter Wasser ein Lied hören konnte. Dort legte er mich auf seine beiden Unterarme und ließ mich über das Wasser schweben. Dann schob er meinen Badeanzug im Schritt zur Seite und drang erneut mit seinen Fingern in mich ein. Der Badeanzug war rot. Das Lied dauerte ewig. Anschließend durfte ich mit ihm auf die Reifenrutsche. Er setzte sich auf den gelben Reifen und ich auf seinen Schoß. Als wir fast unten ankamen, drückte er meinen Kopf unter Wasser. Das alles passierte noch in der Rutsche. Keiner konnte es sehen. Ich dachte, dass ich sterben müsse. Ich bin nie wieder mit einem Reifen gerutscht.

Sieht keiner, was mit mir passiert? Oder will es keiner sehen?

Als er mit uns sogar in den Sommerurlaub flog, fotografierte er meine Schwester beim Umziehen. Die Bilder machte er mit der Kamera meines Vaters. Dieser sah sie, als er die Bilder entwickeln ließ. Aber der Täter konnte damals alles wie einen Zufall aussehen lassen. Mein Vater glaubte ihm. Nicht nur ich wurde von ihm manipuliert, sondern mein gesamtes Umfeld.

Immer wieder machte er mir teure Geschenke, über die ich mich freute. Wenn wir neue Kleidung kauften, bestand er darauf, dass er mit in die Umkleide durfte. Als wir einmal im Anschluss daran auf einen Jahrmarkt gingen, zwang er mich dazu, mich in der Gondel des Riesenrads umzuziehen, um die neuen Kleidungsstücke direkt zu präsentieren. Es war Winter, und in dem kurzen Rock und der dünnen Strumpfhose, die ich anziehen musste, fror ich. Meine Eltern waren für die neuen Klamotten natürlich dankbar.

Auch bei Besuchen im Freizeitpark kam es zu Übergriffen. Dort gab es ein Labyrinth aus sehr hohen Pflanzen. In einer Ecke, in der die anderen Besucher nicht mehr zu sehen waren, verlangte er von mir, dass ich mit seinem Handy unter meinen Rock filmen und mich dabei selbst anfassen solle. Ich tat es. Man konnte die anderen Besucher auf den Aufnahmen im Hintergrund hören, als er sie mit mir zusammen anschaute. Was mit den Aufnahmen passierte, weiß ich nicht. Ich habe Angst, dass sie irgendwann auftauchen und dann alle wissen, was mir passiert ist. Dass dann alle denken, dass ich eklig und beschmutzt bin. So wie ich es auch heute noch manchmal denke. Niemals würde ich das über ein anderes Opfer denken. Nur für mich selbst kann ich das nicht annehmen.

Als Kind aus schwierigen Verhältnissen war ich damals einmal in der Woche in einer Betreuungsgruppe. Eine Sozialarbeiterin bemerkte anhand von meinen Erzählungen das typische Verhaltensmuster solcher Täter: viel zu teure Geschenke, Ausflüge um körperlichen Kontakt aufzubauen, Strandurlaube. Sie sprach mich an und fragte, ob ich von ihm jemals berührt wurde. Ich log: Nein, niemals. Lieber wäre ich im Boden versunken, als zuzugeben, was mir passiert war. Bis heute denke ich darüber nach, was passiert wäre, wenn ich die Wahrheit gesagt hätte. Sie sprach trotzdem mit meinen Eltern. Mein Vater brach sofort den Kontakt zu dem Täter ab. Meine Mutter nicht. So ging es, wenn auch nur halb so oft, weiter mit dem Missbrauch. An diese Zeit habe ich keine wirklichen Erinnerungen mehr. Ich funktionierte nur noch. Meine ganze Kraft steckte ich darein, mir bloß nichts anmerken zu lassen. Daran ging ich kaputt. Das ist einfach zu viel für ein kleines Mädchen. Für ein Kind.

Der erste Übergriff ist nun fast zwanzig Jahre her. Aus Angst und Scham konnte ich meinen Eltern bis heute nichts davon erzählen. Eine Anzeige würde vermutlich nichts bringen, da ich keine Beweise habe. Ich würde es nicht ertragen können, ihn noch einmal sehen zu müssen. Die Angst, dass er mir im Falle eines Prozesses was antun würde, lähmt mich. Lange Zeit hatte ich das Gefühl, an den Panikattacken, Flashbacks und immer wiederkehrenden Alpträumen zu zerbrechen. Ich trank viel Alkohol und versuchte so, das zu unterdrücken, was so stark in mir tobte. Nun bin ich in psychologischer Behandlung und habe das Gefühl, dass es mir guttut, und ich lerne mit dem Geschehen umzugehen und es vielleicht irgendwann annehmen zu können. Ich hoffe, dass durch meinen Bericht die Strategie des Täters dargestellt werden kann. Wenn ich hiermit nur einem Kind helfen kann, hätte es sich schon gelohnt.