Ich bin jetzt über 60 Jahre alt und man sollte denken, dass nach gut 50 Jahren alles verheilt und nicht mehr weiter schlimm ist, aber das ist es nicht. Mir geht nicht in den Sinn, warum ausgerechnet sexuelle Gewalt derart tiefe Wunden schlägt, die kaum überwindbar scheinen und sich in vielen Dingen des Alltags bemerkbar machen.

Ich war damals ungefähr zehn Jahre alt und bin einem Schwimmverein beigetreten. Schwimmen war immer meine Leidenschaft und von meiner Mutter weiß ich, dass ich seit frühester Kindheit in jedes Wasser gesprungen bin. Mir war mit sechs Jahren egal, einfach von einem 10-Meter-Turm zu springen oder mitten in den See zum Schrecken meiner Eltern zu springen und weg zu schwimmen, bis mein großer Bruder mich endlich in Sicherheit bringen konnte. Ich hatte mich im Schwimmverein sehr wohl gefühlt und nie ein Training verpasst.

Es begann damit, dass mich eines Tages ein Betreuer ansprach. Ich sei ihm schon länger aufgefallen und wie gut ich schwimmen würde. Wenn ich wollte, würde er sich dafür einsetzen, dass ich an den Vereinslandesmeisterschaften teilnehmen könnte und dass ich bestimmt gute Chancen hätte. Heute sage ich mir, dass ich mich schon da direkt an den Trainer hätte wenden sollen, der ja eigentlich zuständig ist. Ich sollte mich mit dem Betreuer treffen, um alles zu besprechen. Er wohnte nicht weit von unserer Wohnung und ich Idiot bin hingegangen.

Beim ersten Treffen war noch alles in Ordnung. Er redete mit mir über den Verein, das Schwimmen und die Landesmeisterschaft. Ich sollte mit ihm etwas ausfüllen. Beim zweiten Treffen wollte er mir Badehosen zeigen, die man bei der Meisterschaft tragen sollte und ich sollte die anprobieren. Ich wollte das erst nicht, aber er meinte, dass es ja wohl passen sollte. Vorher war es für mich immer was völlig Normales, im Schwimmbad in Badehose herumzulaufen. Aber als ich da stand, war es mir irgendwie peinlich und unangenehm und auch wie er mich anschaute. Beim Umziehen stand ich unwillkürlich nackt vor ihm und ich wäre am liebsten weg gelaufen. Es war nur noch peinlich. Da begann er schon, mich anzufassen.

Ich habe gedacht, dass nach der Meisterschaft alles vorbei wäre. Ich machte in meiner Altersgruppe den ersten Platz und das erklärte er als seinen Verdienst. Ich sollte immer wieder zu ihm hin und er begann mit den Vergewaltigungen. Es ging ein halbes Jahr lang und ich kann hier nicht aufschreiben, was er alles gemacht hat. Ich spüre heute noch physisch den Schmerz und manchmal den Geschmack im Mund. Ich weiß noch, dass ich einmal tagelang Angst hatte, als es anal geblutet hat und ich dachte, ich würde sterben. Ich habe mich nicht getraut, ihm zu widersprechen, wenn ich wieder zu ihm hinkommen sollte.

Ich hatte mich im Schwimmverein sehr wohl gefühlt und nie ein Training verpasst.

Erst nach einem halben Jahr setzte ich dem ein Ende, indem ich aus dem Verein austrat. Ich ging nicht mehr zum Training. Ich wollte mit meinen Eltern sprechen, aber dazu hatte ich viel zu viel Angst. Mein Vater war ein herzensguter Mensch und ein sehr guter Vater. Ich weiß, dass er mich beschützt hätte. Aber ich glaube, das war es genau, wovor ich Angst hatte. Er hätte dem was angetan und dann wäre unsere Familie kaputt und ich wäre schuld. Ich glaube heute nicht, dass ich der Einzige damals war. Ein Junge aus meiner Nachbarschaft hat sich damals vor einen Zug geschmissen.

Bevor ich begann, dem Training fernzubleiben, habe ich anfangen, Süßigkeiten zu essen oder teils zu „fressen“. Aus heutiger Sicht glaube ich, dass ich mich körperlich unattraktiv machen wollte. Ich habe zugenommen und mochte mich selbst nicht mehr. Dafür schämte ich mich zusätzlich. Wenn wir damals in der Schule Sport hatten und Fußball spielen sollten, musste eine Mannschaft mit freiem Oberkörper spielen. Meine Gewichtszunahme und das teilweise Nacktsein waren der Horror für mich. Meine schulischen Leistungen ließen nach und ich blieb sitzen. Irgendwann begann ich zu lernen, eine Mauer um mich aufzubauen. Ich erreichte wieder Normalgewicht und begann, alles zu verdrängen. Ich engagierte mich sozial und gründete mit siebzehn den Ortsverband des Deutschen Kinderschutzbundes. Später studierte ich Sozialarbeit und arbeitete im Jugendamt. Mir ist bewusst, dass es jahrelang ein Helfersyndrom war. Aber besser ein Helfersyndrom als Dauerdepressionen.

Vor einigen Jahren entschied ich mich, eine Therapie zu beginnen. Ich überlegte, mich mit dem Schwimmverein in Verbindung zu setzen, um ein Gespräch zu führen. Meine Therapeutin bestärkte mich. Über das Internet suchte ich die heutige Anschrift des Vereins heraus und schrieb eine E-Mail, was mir damals im Schwimmverein passiert ist. Ich erklärte, dass ich keinerlei Interesse habe, dem Verein zu schaden. Da die Verantwortlichen nach der langen Zeit wohl nicht mehr aktiv da waren, wollte ich auch nicht so etwas wie Rache. Ich wollte weder eine Wiedergutmachung, noch Ansprüche stellen oder jemanden bloßstellen. Ich wollte einfach nur mit dem Leiter des Schwimmvereins darüber reden, was geschehen war. Mir ging es darum, die Verantwortlichen dort zu sensibilisieren und auf die Kinder aufzupassen. Die Antwort hat mich niedergeschlagen und zurückgeworfen. Man war zu keinem Gespräch bereit. Die E-Mail klang wie von einem Anwalt. Ich verstehe das nicht und ich muss jetzt schon wieder weinen. Warum will man nicht reden mit mir? Warum werden Opfer als Feinde angesehen und erneut verletzt? Ich kann damit nicht klarkommen.

Ich bin seit damals nie wieder Schwimmen gewesen, obwohl es mir immer das Liebste war. Das  Schlimmste an allem ist, dass mir Jahre meiner Kindheit fehlen. Ich weiß heute noch, was er damals alles gemacht hat. Aber ich weiß nicht, was in den zwei Jahren davor und danach war. Ich habe an die schönen Zeiten keine Erinnerungen mehr. Er hat mir große Teile meiner Kindheit gestohlen und das tut so weh! Ich habe mich zurückgezogen. Ich verlasse in der Regel einmal pro Woche das Haus, um meine Wocheneinkauf zu machen. Ich treffe nur noch selten Menschen. Ich habe Angst, wenn das Telefon klingelt oder jemand an der Haustür ist, den ich nicht erwarte. Jeder Versuch, in meine „Mauer“ Wohnung einzudringen, macht mir Angst. Ich mache auch niemandem auf, den ich nicht direkt erwarte. Ich habe Angst, dass er mich findet, obwohl ich weiß, dass er eigentlich schon tot sein müsste. Das einzige, was mir Zuflucht und Sicherheit gibt, ist Musik und Bücher.