Ich möchte gut 30 Jahre nach meinen negativ nachhaltigen Erfahrungen von meiner Missbrauchsvergangenheit im Leistungssport erzählen. Ich bin glücklich verheiratet sowie Vater zweier wundervoller Kinder. Obwohl ich damals im Alter von zehn bis 13 Jahren an die hundert Mal von meinem Trainer missbraucht wurde, habe ich bis vor zwei Jahren im Profisport in einer anderen Sportart als Trainer und Funktionär gearbeitet.

Sehr wichtig ist mir, dass ich zwar ein Opfer bin, jedoch keinesfalls die typische Behandlung eines Opfers erfahren möchte. Ich bin mir absolut sicher, dass ich unter anderem aus diesem Grund so lange geschwiegen habe. Das sehe ich auch als gesellschaftlich großes Problem an und würde gerne in irgendeiner Form dazu beitragen, dieses gesellschaftliche Verhalten gegenüber Opfern zu ändern. Ich glaube zumindest aus eigener Erfahrung nicht, dass Opfer Mitleidsbekundungen wollen, um sich noch kleiner zu fühlen. Tatsächlich ist dies jedoch die gesellschaftstypische Reaktion auf Geschichten wie meine und hält eher davon ab, sie zu teilen.

Im Alter von fünf Jahren begann ich mit dem Tennisspielen. Mein Talent wurde früh erkannt, und über Kinderturniere gelangte ich in überregionale Fördermaßnahmen. Der damalige Bezirksjugendwart wurde auf mich aufmerksam. Mit zehn Jahren trainierte ich bis zu vier Mal wöchentlich mit meinem Trainer. Unterstützt wurde ich von einem „väterlichen Freund“, wie er sich nannte. Ein ebenfalls angesehener Trainer, jedoch nicht in Diensten des Verbandes. Da ich aus einer Familie mit vier Kindern komme, die alle sehr sportlich aktiv waren, schien es meinen Eltern willkommen, dass der „väterliche Freund“ zu einer Art persönlichem Unterstützer, Fahrer etc. wurde. Zu annähernd jeder Einheit hat er mich abgeholt, 30 Minuten Hinfahrt, Training, Hausaufgaben im Hallenbüro, häufiges gemeinsames Duschen, wenn alle weg waren, und 30 Minuten Rückfahrt. Ein Kuss auf den Mund gehörte dabei wie ganz selbstverständlich zur Begrüßung und Verabschiedung dazu, aber nie öffentlich. Es folgten an die 15–20 Turniere im Jahr, häufig mit Übernachtung in anderen Städten auf einem gemeinsamen Zimmer ohne Anwesenheit meiner Eltern. Er hatte sich dermaßen in die Familie infiltriert, dass er sogar den Heiligabend bei uns verbrachte und ich zwei Wochen mit ihm im Urlaub war.

Der Missbrauch reichte von anfänglichen Berührungen am nackten Gesäß über tägliche Küsse, nackte Massagen nach Spielen in Hotelzimmern bis hin zu Sexpraktiken, die er an mir und ich an ihm vollziehen musste. Davon weiß ich manche Dinge, Orte, Turniere, Zimmer, Hotels und Vorkommnisse noch sehr detailliert. Zu meinen klaren Erinnerungen gehört auch, dass mein eigentlicher Verbandstrainer davon gewusst haben muss. Ich erinnere mich, dass mich der damalige Jugendwart des Tennisverbandes angesprochen hat und mich fragte, in welcher Beziehung ich zum Täter stünde. Der habe da nämlich so eine Vorgeschichte. Obwohl ich damals schwieg, kam es zum Bruch zwischen dem Täter und dem Verband. Damals stellte ich mich auf seine Seite und fiel aus den Fördermaßnahmen des Verbandes.

Der Einfluss auf meine Familie war enorm.

Der Einfluss auf meine Familie war enorm, was sich für mich aber auch erst sehr spät erklärte. Meine Mutter war sehr engagiert und tat für uns augenscheinlich alles, um uns zu fördern. Jedoch schwärmte sie sehr für den Täter und verteidigte ihn. Erst vor knapp zwei Jahren wurde mir klar, dass meine Mutter meine Situation unter ihm geduldet hat, um die Nähe zu ihm nicht zu verlieren. Mit 13 Jahren spazierte ich mit meiner Mutter und dem Täter durch den Park. Ich hatte beide um ein Gespräch gebeten, weil ich mich in eine Mitschülerin verliebt hatte. Ich sagte ihm, dass ich unsere Beziehung beenden möchte und er bitte nicht böse sein solle, ich aber mit einem Mädchen zusammen sein möchte. Wahnsinn, wenn ich heute darüber nachdenke.

Was mich bis heute sehr bewegt, ist, dass diese Tennisfamilie mit einem ausgewählten Kreis von Spielern und engagierten Eltern, denen man wöchentlich begegnete, etwas gewusst haben muss, genauso wie zahlreiche Funktionäre, die es allesamt vorzogen zu schweigen. Eine Trainerin, die ich zufällig nach 25 Jahren traf und mit der ich einige Gespräche über die Vergangenheit führte, bestätigte mir, dass alle aus diesem Kreis von 30–40 Leuten darüber Bescheid wussten.

Erst mit knapp 30 Jahren begriff ich viele Zusammenhänge, die ich vorher komplett ausgeblendet hatte. Da stand ich dann eines Sonntags vor seiner Tür und wusste gar nicht wirklich, was ich sagen sollte. Ich wollte ihm von meinen Selbstmordgedanken erzählen, ihm erklären, was er mir und anderen Jungs vor und nach mir angetan hat, wollte ihm Vorwürfe machen und ihn zu Geständnissen zwingen. Eines wusste ich aber genau: Ich würde ihn auf der Stelle umbringen, wenn er einen Jungen in seiner Wohnung hat. Einige Wochen vor diesem Besuch sprach ich zum ersten Mal mit meiner damaligen Freundin über meine Vergangenheit in aller Tiefe. Mittlerweile ist sie meine Frau und ich bin sehr froh, dass mich die Gedanken an sie damals abhielten, mich zu rächen.

Heute kennen viele Leute in meinem Umfeld diese Vergangenheit, die einen mit mehr, die anderen mit weniger Details. Ich möchte dazu beitragen, dass aufgeklärt wird, vor Missbrauch bewahrt wird, Täter härter bestraft werden und insbesondere jeder, der Missbrauch bemerkt, sofort darauf aufmerksam macht. Aus meiner Profitrainerarbeit im Sport weiß ich nur zu genau, wie Funktionäre ticken, was für ein lächerliches Machtgehabe teilweise hinter deren Handeln steht und dass im Leistungssport bewusst über Leichen gegangen wird, und dies auf Kosten von Kindern, auch heute noch.