Ich wurde Anfang der 1970er-Jahre mit etwa zwölf Jahren Opfer fortgesetzten sexuellen Missbrauchs durch meinen Sporttrainer. Er war Gasttrainer im Verein und konzentrierte seine Arbeit zunehmend auf mich. Ich mochte ihn und war stolz auf meine sportlichen Erfolge. Mit der Begründung, dass ich aufgrund meiner Begabung besonderer Förderung bedürfe, schlug der Trainer vor, mich zusätzlich in seinem Heimatverein zu trainieren. Er bot an, mich mit dem Auto von zu Hause abzuholen und nach dem Training wieder zurückzubringen. Die Trainerin, meine Eltern und ich willigten ein.

Ich erinnere mich an nette Gespräche im Auto und wachsende Zuneigung zu dem Trainer. Eines Tages nach dem Training – wir waren die beiden Letzten in der Halle – umarmte er mich völlig überraschend, hielt mich fest umklammert, presste seinen Unterleib an mich und fragte mich, ob ich denn wisse, wie sehr er mich möge und dass er nur wegen mir zum Verein komme. Die schönen Worte – Worte, wie ich sie bis dahin nur von meiner Mutter gehört hatte – standen in Widerspruch zu der Bedrängnis und Scham, die ich in der aufgedrängten Umklammerung empfand. Obwohl dieser Zustand eine gefühlte Ewigkeit andauerte und unerträglich war, verharrte ich völlig verängstigt und erstarrt in Passivität. Kurz darauf nahm er in der Umkleide erste sexuelle Handlungen an mir vor. Dies waren meine ersten offen sexuellen Handlungen mit einem anderen Menschen, und sie lösten in mir eine stürmische Mischung von Gefühlen aus: Überraschung, Aufregung, Neugier, das Gefühl, zusammen etwas Verbotenes zu tun, Mittäter zu sein, endlich erwachsen zu werden, Angst vor Entdeckung, Scham.

Fortan waren wir immer wieder heimlich unter der Dusche, und ich gewöhnte mich daran. Das geistige Klima der frühen 1970er-Jahre half mir, das als Befreiung zu interpretieren. Nach einiger Zeit begann mein Trainer, mich zu drängen, nach dem Training mit in seine Wohnung zu kommen, wo wir keine Angst vor Entdeckung haben müssten. Ich blockte ab, aber sein Drängen wurde immer stärker. Ich erinnere eine qualvolle, schlaflose Nacht, in der ich mich vor die Wahl gestellt glaubte, entweder meiner Mutter alles zu beichten und dem Spuk ein Ende zu setzen oder dem Drängen nachzugeben. Im Morgengrauen entschied ich mich für das Nachgeben, weil es mir erwachsener vorkam.

Nach dem nächsten Training willigte ich ein, meinen Trainer in seine Wohnung zu begleiten. Der Akt lief wie ein Ritual ab: die immer gleiche Musikkassette, der immer gleiche Ablauf – aus heutiger Sicht eine komplett mechanische und eigentlich lustfeindliche Sexualität. Aber ich kannte es ja nicht besser. Er schärfte mir ein, dass ich niemandem von „unserem Geheimnis“ erzählen dürfe, denn dann käme er ja ins Gefängnis und das wolle ich ja nicht. Ich wollte es wirklich nicht, sein scheinbar großes Interesse an mir schmeichelte mir. So verging etwa ein Jahr, in dem ich wöchentlich missbraucht wurde.

Mein Trainer zeigte mir FKK-Magazine mit Fotos von Jungen.

Meine sportlichen Erfolge nutzte mein Trainer als Vorwand, um mit mir zu den Bundesmeisterschaften in eine andere Stadt zu fahren, ,,damit ich das mal kennenlerne, bevor ich beim nächsten Mal selbst teilnehme“. Dort übernachtete er mit mir in einem Doppelzimmer einer Jugendherberge. Ein anderes Mal zeigte mir mein Trainer FKK-Magazine mit Fotos von Jungen sowie einen pornografischen Super-8-Film mit mehreren sehr kleinen Kindern.

Als bei mir erste Schambehaarung auftrat, verlor er das Interesse an mir und behauptete, er sei jetzt zu alt für Sex. Dieser Moment, als der pädophile Fetischismus plötzlich seine ungeschminkte Fratze zeigte, war verheerend. Da ich ohne Androhung von Gewalt freiwillig mitgemacht hatte, fühlte ich mich nicht nur entwertet, sondern auch noch selbst schuld daran. Ich war wütend auf mich, dachte über Selbsttötung nach. Gleichzeitig versuchte ich, mir nichts anmerken zu lassen, aus lauter Scham über das plötzlich so Ungeheuerliche, das für mich bis dahin so normal geworden war. Die Tat blieb daher unbekannt und wurde strafrechtlich nicht verfolgt.

Erst Jahre später begann ich, im Freundeskreis vereinzelt darüber zu sprechen, allerdings auf eine affirmative, scheinbar ausgesöhnte Art und Weise. Zu jener Zeit habe ich das Geschehene nicht als sexuellen Missbrauch gewertet, sondern als ein etwas verfrühtes sexuelles Verhältnis, das ich selbst eingegangen war. Dabei hatte die Tat für mich durchaus verheerende Folgen: Bindungsunfähigkeit, Selbstzweifel und Autoaggressivität.

Mit Mitte Dreißig war ich mit meinem Beziehungsleben so unzufrieden, dass ich eine Psychotherapie begonnen habe. Die Aufarbeitung des Missbrauchs im Rahmen der Therapie half mir, den Missbrauch als solchen zu erkennen und meine Rolle dabei neu zu bewerten. Erstmals richtete sich meine Wut nicht auf mich selbst, sondern auf den Täter. Über eine strafrechtliche Verfolgung oder Klage auf Schadenersatz brauchte ich allerdings nicht nachdenken – die Tat war nach geltendem Recht längst verjährt.

Heute bin ich verheiratet und habe mit meiner Frau zwei Kinder. Ich schreibe Ihnen, weil ich glaube, dass dadurch Beweggründe, Strategien und Strukturen klarer zutage treten – teilweise wahrscheinlich als typisch, teilweise vielleicht auch als etwas Spezielles, Individuelles. Ich erhoffe mir davon einen offeneren und bewussteren gesellschaftlichen Umgang mit diesem – meinem – Thema und die Erarbeitung wirksamer Präventivmaßnahmen.