Unser Leichtathletik-Trainer war ja „ein so guter Trainer, der so viel für Euch gemacht hat“, wie meine Mutter anlässlich seines Todes zu mir sagte. Ehrlich: Ich hätte kotzen können! „Tja, was hat der schon für uns gemacht!“, waren meine Gedanken. Unser Trainer, der nach einem Zirkeltraining dicht hinter einem stand und direkt auf der Brust von Mädchen oder kleinen Jungen den Puls messen musste. Klar, Pulskontrolle, aber so? Gleichzeitig spürte man im Rücken die Erregung in seiner Hose.

Er hatte den Eltern angeboten, die Kinder, die in der Nähe wohnten, nach dem Sport mit seinem VW-Bus nach Hause zu fahren. Aus irgendwelchen, für uns nicht erkennbaren Gründen mussten wir acht bis zwölfjährigen Jungen und Mädchen im Verein eine gemeinsame Umkleide benutzen. Die andere Umkleide war angeblich gesperrt, besetzt, immer wieder gab es neue Begründungen. In der Umkleide dann jedes Mal das gleiche Spiel. „Wer nicht duscht, wird nicht mit nach Hause genommen“ oder „Igitt, wer nicht duscht, stinkt. Der darf nicht in meinem Bus sitzen“, waren nur einige seiner Aussagen. Ich jedenfalls habe mich nicht getraut mich zu widersetzen, auch wenn ich es öfter versucht habe. Vorsichtiges Ausziehen, nur alles irgendwie verdecken, schnell rein, schnell duschen und hoffen, dass er sich nicht so schnell ausgezogen hat. Hektik und Stress pur. Wenn er die Dusche betrat, rannten viele beiseite. Keiner wollte in seiner Nähe duschen. Oft fand er jedoch sein Opfer – ein Kind, dass er einseifen, abduschen und bedrängen konnte.

Wenn man es aus der Dusche herausgeschafft hatte, konnte man zwar froh, aber noch nicht erleichtert sein. Denn der Trainer trocknete sich nie in der Dusche, sondern immer in der Umkleide ab. Dazu rubbelte er seinen Körper mit dem Handtuch so lange, bis sein Glied erigiert war und er dann sein Handtuch darüber hängen konnte. Wir waren als Zuschauer seiner One-Man-Show ausgesetzt. Natürlich haben wir nicht gestarrt, sondern weggeguckt. Mitbekommen hat man es trotzdem. Ich habe die Kinder beneidet, die immer von den Eltern abgeholt wurden. Mehrfach habe ich auch meine Eltern gebeten, mich vom Sport abzuholen, aber dazu ist es meist nicht gekommen. Keinen Vorwurf an meine Eltern, sie haben nichts bemerkt, und ich habe wahrscheinlich alles getan, damit sie nichts merken.

Mit meiner Geschichte möchte ich Betroffene ermutigen, ihren eigenen Weg zu gehen.

Circa drei Jahre habe ich diese Situationen im Verein ertragen. Glücklicherweise waren wir da nur von Oktober bis Anfang April, im Sommer hatten wir draußen im Stadion weitestgehend unsere Ruhe. Als ich 14 Jahre alt war, hätte die ganze Geschichte auffliegen können. Ein Junge hat sich wohl seiner Mutter anvertraut und erzählt, dass der Trainer Kinder unter der Dusche anfasst. Diese Mutter hat bei meiner Mutter nachgehakt, ob wir auch so etwas erzählt hätten. Darauf sprach mich meine Mutter an. Ich muss hochrot geworden sein, diese Hitze in mir fühle ich noch heute. Doch ich verneinte. Eher wäre ich vor lauter Scham im Boden versunken.

18 Jahre haben mein Körper und ich es geschafft, diese Geschichte zu vertuschen. Doch dann ging es nicht mehr. Mittlerweile liegen Jahre der Aufarbeitung hinter mir. Eine anstrengende Zeit, die ich niemandem wünsche und so auch nicht mehr erleben möchte. Wenn ich diese Kraft in andere sinnvolle Dinge hätte stecken können, hätte ich wahrscheinlich alle Bäume dieser Welt ausreißen können. Meine persönliche Aufarbeitung hat mich auch finanziell sehr stark gefordert. So individuell, wie die Geschichten der Betroffenen sind, so individuell müsste die Hilfe durch das deutsche Krankenkassensystem sein. Möge doch endlich die Gesellschaft die Augen aufmachen, zuhören und Geschehnisse nicht verleugnen oder herunterspielen. Das würde allen Betroffenen schon eine Menge Kraft geben, die sie für ihr alltägliches Leben brauchen.

Vor einigen Jahren habe ich Kontakt zum alten Verein gesucht und den Vorsitzenden angerufen. Nach meinen Schilderungen sagte er: „Wenn ich das, was Sie mir gerade erzählen, betrachte, dann kann ich sagen, dass der Trainer mit heutigem Wissen auffällig war.“ Er bedankte sich bei mir für meinen Anruf, berichtete davon, dass er das mit in die nächste Vorstandssitzung nehmen würde. Er fragte noch, ob ich Hilfe bräuchte oder hätte, aber ich war in guten Händen. Es gab keine Anzeige bei der Polizei, weil der Trainer inzwischen verstorben war.

Tatfolgen gab und gibt es sicherlich viele. Vor allen Dingen viele Krankheiten. Aus heutiger Sicht weiß ich, dass es vor allem psychosomatische Dinge waren. Mit großer Kraftanstrengung bin ich durch meine Schul- und Ausbildung gegangen: Abitur, Studium, Doktorarbeit, Referendariat. Heute bin ich Lehrerin. Meine Erfahrungen helfen mir dabei, Schülerinnen und Schüler feinfühlig wahrzunehmen.

Aus heutiger Sicht weiß ich gar nicht mehr, wie ich das alles schaffen konnte. Ich war am Abgrund, aber ich hatte den Mut, mir Hilfe zu holen. Und ich sorge jeden Tag aufs Neue für mich! Mit meiner Geschichte möchte ich Betroffene ermutigen, ihren eigenen Weg zu gehen.