Ich war einige Jahre im Vorstand eines kleineren Sportvereins tätig, der mit der Zeit aber immer mehr gewachsen ist. Wir waren eine Gruppe von engagierten Personen, die das alles ehrenamtlich über Wasser hielten und brauchten nun einen richtigen Trainer. Da sagte man zu mir: Hör mal, da ist ein ehemaliger Trainer von uns, der hat eine Zeitlang in größeren Vereinen gearbeitet. Aber er möchte jetzt gerne zu uns zurückkommen. Wir kennen den alle von früher, ein richtig guter Trainer. Es gab allerdings vor kurzem Verdachtsmomente gegen ihn, aber nichts Handfestes. Er hatte wohl ein Verhältnis mit einer jüngeren Sportlerin, aber alles sei einvernehmlich gewesen.

Alle sagten: Ja, das war ein super Trainer damals, wir sind echt gut mit ihm klargekommen. Die sind ja fast alle bei ihm groß geworden. Ich aber war ambivalent und dachte: Ok, die kennen ihn gut und sagen alle, dass er ok ist, aber trotzdem müssen wir irgendwie einen Rahmen schaffen, bis das geklärt ist. Und so war beim Training und bei Wettkämpfen immer noch eine zweite Person anwesend, er war nie alleine mit Kindern oder Jugendlichen des Vereins.

Dann kam die Nachricht, dass gegen diesen Trainer tatsächlich Anklage erhoben worden sei – von einem anderen Verein. Das war ein kleiner Schock, trotzdem gab es zunächst die Haltung: Okay, „im Zweifel für den Angeklagten“. Es lief gut bei uns, wir konnten von unseren Beobachtungen nichts Negatives sagen. Trotzdem waren die Alarmglocken an und die Maßnahmen, die wir getroffen hatten, wurden schriftlich festgehalten. Schließlich erfuhren wir, dass das Verfahren gegen eine geringe Geldstrafe eingestellt worden war.

Dann hörte ich, dass der Trainer gern auch in Schulen gehen würde, um mehr Talente in den Verein zu holen. Dabei hätte er aber alleine mit Schülerinnen und Schülern gearbeitet, auch deshalb wurde entschieden, zunächst ein erweitertes Führungszeugnis anzufordern. Da erklärte der Trainer dem Vorsitzenden, dass da eventuell etwas drinstehen könnte. Und so kam die Sache auf den Tisch. Er war rechtskräftig verurteilt wegen sexuellen Missbrauchs an Schutzbefohlenen. Mir war klar, dass wir ihm jetzt kündigen werden, aber die anderen im Vorstand hatten eine andere Haltung.

Da wusste ich, dass wir jetzt Unterstützung brauchen, das übersteigt unsere Fähigkeiten, damit umzugehen. Die beauftragte Beratung empfahl, dem Trainer sofort zu kündigen. Für mich gab es nur diese eine Entscheidung und mir war klar: wenn nicht, bin ich raus. Die Verantwortung trage ich nicht. Es waren durchaus welche dabei, die sagten: Ich finde das richtig, dass du konsequent bist. Andere sagten: Ist mir alles hier zu kompliziert und zu unwichtig. Die haben sich rausgezogen aus der Entscheidung. Da wurde bagatellisiert und es wurden Witzchen gemacht, die ich echt nicht zum Lachen fand. Es war nicht möglich, eine Einigung zu finden, und schließlich wurde ein neuer Vorstand gewählt.

Bei der Mitgliederversammlung wurde über die Verurteilung nicht mehr gesprochen. Der Trainer gab ein Statement ab. Er habe vor einigen Jahren ein Verhältnis mit einer jugendlichen Sportlerin gehabt, das sei lange vorbei und kein Thema mehr. Und so entschieden die Eltern: Ist ja ein toller Trainer, unsere Kinder entwickeln sich leistungsmäßig super hier. Wir wollen den haben.

Ich denke, es ist dringend nötig, Supervisionsangebote zum Thema sexualisierte Gewalt im Sport bei unabhängigen Anlaufstellen zu schaffen, die nicht im Sportsystem verankert sind.

Einige Jahre später tauchte der Trainer mit seinen Schülerinnen selbst wieder in Hallen auf, in denen er zuvor Hallenverbot hatte. Da gab es keine Reaktionen. Es lief alles, als wäre nie was gewesen. In einer Rechtsberatung wurde mir empfohlen, dies nicht weiter zu thematisieren. Selbst wenn man von der Verurteilung wegen Kindesmissbrauchs weiß, darf man Eltern oder gar andere Vereine nicht darüber informieren, weil das eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts des Täters ist. Dies entspricht quasi einem Redeverbot.

Das alles ließ mir einfach keine Ruhe, und ich nahm dann nochmal Kontakt zum Landessportbund auf. Anfangs hatte ich die Sorge, dass von dort Vorhaltungen kommen. Weil es ja vorher die Gerüchte gab. Und gleichzeitig fürchtete ich, dass dadurch ein Stein ins Rollen kommt, der dann zu einer Lawine wird und ich kann das nicht mehr beeinflussen. Sie boten mir in der Sache Unterstützung an, durch ihren Anwalt. Da sollte eigentlich noch mal was passieren, aber dazu ist es nie gekommen. Da habe ich nie wieder etwas gehört, und ich selbst konnte irgendwann einfach nicht mehr.  

Ich denke, es ist dringend nötig, Supervisionsangebote zum Thema sexualisierte Gewalt im Sport bei unabhängigen Anlaufstellen zu schaffen, die nicht im Sportsystem verankert sind. Wichtig wäre für mich, dass vorab grundsätzlich Vertraulichkeit und Anonymität zugesichert wird. Das Thema sollte auch in allen Ausbildungsstufen der Trainerausbildung behandelt werden. Sicher gibt es dazu bereits viele gute Konzepte, aber ich bezweifle, ob diese in der Realität so wie beschrieben umgesetzt werden.

In den letzten Jahren ist sexueller Missbrauch im Sport mehr thematisiert worden, in Projekten und in den Medien. Das ist ein erster kleiner Schritt. Ich nehme aber auch wahr, dass dies die Beteiligten sehr viel Kraft kostet. Und ich glaube, dass es noch viel mehr Unterstützung braucht.