Vor dem sexuellen Missbrauch mit acht Jahren hatte ich eine sehr schöne Kindheit. Ich bin im Schwimmverein geschwommen. Ich liebte das Schwimmen und konnte davon nicht genug bekommen. Aber an einem Tag änderte sich mein Leben schlagartig.

Es war im Trainingslager. Ein Betreuer hat mich in einen Raum geführt, um mit mir ein paar Übungen zu machen. Ich dachte mir nichts dabei, es war normal. Aber dann berührte er mich an intimen Stellen. Ich war verwirrt. Ich wusste, dass das nicht richtig war und dass ich das nicht wollte. Am Anfang wehrte ich mich, aber er drückte mich herunter und machte weiter. Irgendwann lag ich nur noch da und starrte an die Decke. Am Ende nahm der Täter mich auf den Arm und brachte mich ins Bett. Er sagte, dass es ihm leidtue. In mir war alles erstarrt, leer und kalt.

Am nächsten Tag saß ich im Flur auf einer Fensterbank und weinte ununterbrochen. Ich ließ keinen Trainer oder Betreuer an mich heran. Sie riefen meine Mutter an. Sie kam vorbei und blieb den Rest des Trainingslagers bei mir. Bevor meine Mutter mit mir sprach, muss es noch Drohungen des Täters gegeben haben: Wenn ich rede, dürfte ich nicht mehr zum Schwimmen. Außerdem würden mir die anderen eine Teilschuld geben. Trotzdem habe ich versucht, meiner Mutter zu sagen, was passiert ist, auch wenn ich dafür keine Worte hatte. Ich war mir sicher, meine Mutter würde es verstehen und mir glauben. Aber meine Mutter konnte oder wollte es nicht verstehen. Danach habe ich mit keinem mehr darüber geredet.


Heute habe ich das Gefühl,
dass ich meine Vergangenheit wirklich anschauen kann.

Ich weiß, dass es noch mehrere flüchtige Berührungen vom Täter in späteren Situationen gab. Jedes Mal riss es mich aus meinem Leben raus. Ich erstarrte, als ich ihn sah und als es passierte. Ich glaube in der restlichen Zeit habe ich diese ganzen Vorfälle komplett ausgeblendet. Das Schwimmen war für mich das Tollste im Leben und ich begann mit dem Leistungssport. Es war meine Zuflucht. Im Wasser war ich sicher.

Das Schwimmen musste ich mit 14 Jahren wegen einer Verletzung aufgeben. Ich verlor das, was mir am Wichtigsten war und zusätzlich meine Freunde, die keine Zeit hatten, weil sie den ganzen Tag trainierten. Ich fing an im Internet zu chatten und lernte dort einen etwa 30 Jahre alten Mann kennen. Er hörte mir zu, und das bedeutete mir sehr viel. An einem Tag, als er mich zu Hause besuchte, lagen wir zusammen auf dem Bett. Ich dachte mir nichts dabei. Aber dann fing er an, mich an intimen Stellen zu berühren. Ich erstarrte, so wie früher, konnte nichts sagen. Meine Eltern waren im Nebenraum und bekamen davon nichts mit.

Ich glaube, nach dem Vorfall fingen meine Essstörungen an und kurz danach begann ich, mich selbst zu verletzen. Ich zeigte nie eine Schwäche oder dass es Probleme gab. Eigentlich war es trotzdem ersichtlich, dass etwas nicht stimmte. Auch in der Schule wurde ich immer schlechter.

Mit 16 hatte ich unglückliche Beziehungen. Ich war in der Zeit vollkommen durcheinander. Damals habe ich viele Wege gesucht, um Hilfe zu finden. Mein Hauptproblem war, dass ich über meine Mutter privat versichert war und nicht hinter ihrem Rücken eine Psychotherapie anfangen konnte. Bei Beratungsstellen wurde mir immer wieder gesagt, dass sie mir nicht helfen könnten, weil ich dazu eine Therapie über die Kasse machen müsste.

Ich schaffte trotz allem mein Abitur, fing nach dem Freiwilligen Sozialen Jahr in einer anderen Stadt ein Studium an und beendete den Bachelor und Master als Jahrgangsbeste. Im Studium fing ich auch eine Verhaltenstherapie an. Der Therapeut dort sagte sehr schnell, dass er mir helfen möchte, aber wir das Thema Missbrauch aussparen müssten, weil er sich dafür nicht qualifiziert fühlte. Das war für mich damals aber ok. Ich hatte zwar noch diese Bilder aus der Kindheit, aber war sicher, dass ich mir das nur eingebildet hatte und schämte mich dafür. Und die Sachen in der Jugend kamen mir auch eher so vor, als hätte ich ein paar dumme Dinge getan.

Aber als ich drei Abschlüsse und den Doktortitel hatte, wurde mir bewusst, dass ich nicht glücklich war. Ich funktionierte perfekt und mein Umfeld dachte, dass alles perfekt ist. Fragte mich jemand, wie es mir ging, habe ich „gut“ geantwortet, aber gespürt habe ich gar nichts.

Ich fing eine neue Verhaltenstherapie an, die mein Leben grundsätzlich änderte. Ich lernte mich in der Therapie kennen. Ich sah, dass es da noch viele Baustellen aus meiner Vergangenheit gab, die ich nicht einfach wegschieben konnte, wenn ich wirklich leben wollte. Zum ersten Mal funktionierte ich nicht. Als alles zu viel wurde, reduzierte ich meine Arbeitszeit für ein paar Monate und zeigte damit auch offiziell, dass es Dinge in meinem Leben gab, die nicht perfekt waren. Und zum ersten Mal konnte ich mich akzeptieren.

Heute habe ich das Gefühl, dass ich meine Vergangenheit wirklich anschauen kann. Sie ist ein Teil von mir. Ich muss nichts mehr beschönigen, mir keine Schuld geben. Ich muss keinem mehr etwas beweisen. Ich kann jetzt gestärkt nach vorne schauen. Ich mag mich so, wie ich bin, mit allen Schwächen und Stärken. Das ist ein unbeschreibliches Gefühl. Jetzt kann ich meine Geschichte erzählen und dazu stehen, ohne dass sie mich vereinnahmt.