Die Geschichten auf diesem Portal enthalten Schilderungen, die verstörend wirken können. Einige Worte oder Beschreibungen können negative Erinnerungen und unangenehme Gefühle auslösen. Falls Sie das Bedürfnis haben, mit jemanden darüber zu sprechen, nutzen Sie bitte die Angebote zur Beratung & Hilfe.
Ich habe Ihren Aufruf gelesen und mich entschlossen, Ihnen einen Bericht zu schreiben. Der Missbrauch fand in den 1970er-Jahren zu DDR-Zeiten im Turnverein statt. Meine Schwester und ich trainierten dort mehrfach wöchentlich. Die Kinder unserer Gruppe waren zwischen fünf und acht Jahre alt.
Der Sporttrainer hatte die Eltern aufgefordert, den Kindern Gummistiefel zum Training mitzugeben. Während einige Kinder mit den Stiefeln Beinhebeübungen an Sprossenwänden durchführten, holte er sich ein Kind zum „Privattraining“ in die obere Etage, von der man einen Blick auf die anderen Kinder hatte. Er nahm sich einen Stuhl und beobachtete die grätschenden und hüpfenden Kinder. Dann ließ er das Kind auf der Schulter hocken, beförderte die Gummistiefelbeinchen in seinen Schritt unter sein sportliches Beinkleid und forderte das Kind auf, einen zunächst weichen, dann sich verhärtenden Gegenstand zwischen den Gummistiefeln kräftig zu rütteln. Zum Schluss erhielt man ein Lob für das hervorragende Training. Auch während der anderen Sportübungen kam es zu Übergriffen. Bei der Hilfestellung fasste er oft den Mädchen in den Schritt, worauf wir empört reagierten. Er tat es dann als Scherz ab.
Ich erinnere mich, dass meine Eltern verwundert waren, warum wir Gummistiefel mitbringen sollten. Als wir ihnen von den Sportübungen berichteten, gaben sie sich jedoch mit der Erklärung zufrieden. Irgendwann müssen sie aber etwas mitbekommen haben, denn sie fragten uns, ob wir weiter zum Sport gehen oder besser aufhören wollen. Da wir sehr begeistert waren vom Sport und die Tragweite oder den Charakter des Trainings nicht wirklich begriffen hatten, wollten wir weiter dorthin gehen. Echte Konsequenzen hatte sein Tun nicht. Ich vermute, dass er mal aufgefordert wurde, seine seltsamen Sportübungen sein zu lassen. Von institutioneller Seite habe ich nicht viel mitbekommen, keine Anzeigen, keine Polizei, eher peinliches Schweigen. Es haben alle irgendwie gewusst oder geahnt.
Das missbrauchte Vertrauen und die ausgenutzte Arglosigkeit sind das Hauptproblem.
Als wir etwas älter wurden, kam es nicht mehr zum Spezialtraining. Der Sportlehrer war eigentlich sehr beliebt, da er sich mit uns Kindern beschäftigte, uns Schach beibrachte, interessante Dinge berichtete über die Natur oder aus dem Krieg. Die letzte Erinnerung war beim Beerensammeln. Im Alter von acht Jahren hatte er mich allein mitgenommen. Danach wollte er im Auto noch mal „trainieren“, diesmal im Liegen, aber sonst auf die gleiche Weise wie im Training. Ich kann mich daran erinnern, weil er mich danach fragte, ob ich mal Auto fahren will und durfte dann das erste Mal Auto fahren auf einem Feld.
Wenn ich das so schreibe, macht mich das traurig. Vorher dominierte eigentlich die Wut. Irgendwann ist mir ja klar geworden, worum es da ging. Man hat ja körperlich keinen Schaden genommen, aber das missbrauchte Vertrauen und die ausgenutzte Arglosigkeit sind das Hauptproblem. Die Auswirkungen für mich persönlich kann ich nicht genau festmachen, allerdings bin ich mit der Einstellung aufgewachsen, dass es keine Distanz gibt. Ich habe immer noch kein exaktes Gefühl für Übergriffigkeit. Es ist schwieriger in der Beziehung Nein zu sagen, insgesamt habe ich eher ein negatives Männerbild, sobald es um Beziehung geht.
Zu DDR-Zeiten und auch danach habe ich extrem enttäuschende und belastende Erfahrungen mit Stasi- oder Ex-Stasileuten machen müssen. Ich bin inzwischen ausgesprochen sensibel, wenn Leute nicht aufrichtig sind oder andere benutzen wollen. Ich misstraue sehr schnell und bemerke sofort, wenn etwas nicht stimmt mit Menschen, vor allem, wenn Worte, Handeln und Mimik einfach keine Einheit bilden wollen. Die Erfahrung aus der Kindheit, von der ich Ihnen berichtet habe, war jedoch eine der ersten verstörenden. Über diese Erfahrung habe ich so bisher nicht berichtet, meinem damaligen Ehemann habe ich einen Teil davon erzählt, er wirkte aber hilflos. Wirklich verstanden habe ich mich nicht gefühlt. Insgesamt habe ich gelernt, mir in erster Linie selbst zu helfen.
Ich finde es gut, dass es jetzt in der Gesellschaft mehr Sensibilität dafür gibt. Meine Tochter ist inzwischen volljährig und verhält sich zu meiner Freude viel distanzierter und selbstbewusster, als ich das in ihrem Alter getan habe.
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