Mit sechs Jahren fing ich mit Judo an. Für meinen Vater war es wichtig, dass man sich als junges Mädchen selbst verteidigen kann. Also hat er mich beim Verein angemeldet. Das hat mir schnell Spaß gemacht, sodass ich an Wettkämpfen teilnahm und gern regelmäßig zum Training ging.

Mit elf Jahren gab es so etwas wie eine Leistungsgruppe von den Mädchen, die Lust hatten auf Wettkämpfe zu gehen. Dafür bekamen wir privates Training mit einem Trainer, der auch an einer Schule Sportunterricht gab.

Judo ist ein Partnersport, man braucht jemanden, mit dem man die Techniken üben kann. Da wir meistens zu dritt waren, musste eine mit ihm trainieren. Die beiden anderen Mädchen waren Freundinnen und haben sich immer ganz schnell zusammengetan. Also hatte oft ich das Pech. Und er konnte das dann so dirigieren, wie er wollte, indem er sagte: „Ja, gut, Partnerwechsel.“ Und dann musste eine andere von uns zu ihm, weil mehr Partner gab es ja nicht.

Es ging halt ums Kämpfen. Es gibt Stand und Boden. Wenn dieser Mann uns beim Training am Boden festgehalten hat, konnten wir nichts mehr machen. Erst hat er außen an der Hose angefasst, dann in der Hose. Es war eine relativ kleine Übungshalle, in der die Matten ausgelegt waren. Die Atmosphäre war sehr unangenehm. Jede wusste genau, was mit dem Mädchen passiert, was jetzt gerade mit ihm da auf dem Boden rumliegt, weil wir das alle selbst durchhatten. Und das zu ignorieren und zu wissen, dass man nichts machen kann, war schrecklich.

Wir haben untereinander darüber gesprochen und wussten: „Da stimmt irgendwas nicht.“ Aber wir erzählten es nicht unseren Eltern. Wir dachten ja, das hat irgendeinen Grund, dass uns das passiert. Wir müssen irgendwas angestellt haben, und deshalb sind wir jetzt in dieser Situation. So als Strafe.

Wir hatten immer samstags Training, und jeden Samstag ist etwas in der Hinsicht passiert. Wir haben gegenseitig angefangen, uns die Hosen extra fest zuzubinden, sodass wir fast keine Luft mehr bekommen haben, damit er nicht mehr so leicht in die Hosen reinkommt.

Mir wurde klar, dass viele Menschen überhaupt nicht wissen, was man da mit sich rumschleppt.

Einmal habe ich unter der Woche auf einem Mattenwagen gesessen und den anderen beim Training zugeschaut. Der Trainer kam an, stellte sich vor mich und fasste mich wieder an. Ich weiß noch genau, wie ich dachte: „Wieso macht der das denn vor allen Leuten?“ Ich weiß nicht, ob sie es gesehen haben oder nicht. Wie gut sieht man sowas mit diesen riesigen weißen Jacken, die bis zum Knie gehen. Es hat jedenfalls niemand etwas gesagt.

Das lief insgesamt über drei Monate. Irgendwann habe ich es doch meinen Eltern erzählt und er ist aus dem Verein geflogen. Später ging das Ganze vor Gericht. Wir fuhren dorthin und in meiner Erinnerung war das eine ganz unangenehme Situation. Im Raum saßen acht Männer. Das war nicht so angenehm. Sie sagten zu mir: „Jetzt erzähle mal, was im Training passiert ist.“ Und dann habe ich das erzählt und sie stellten Fragen: Wie hat er dich angefasst? Wo hat er dich angefasst? Weißt du noch, wann das war? Mein Papa war dabei. Das war einerseits wichtig, aber anderseits wollte ich auch nicht, dass er das alles so hört. Dann hieß es, dass wir unsere Aussagen noch einmal in der Gerichtsverhandlung vor ihm wiederholen müssten. Das wollten unsere Eltern nicht. Er war also nur aus dem Verein geflogen, weitere Strafen gab es nicht.

Ich denke, unsere Eltern haben gehofft, dass das jetzt abgeschlossen ist und dass man die Wunden nicht nochmal aufreißen sollte. Es war vielleicht ein Versuch, mich zu schützen. Und das ging auch lange gut. Bis ich dann 18 wurde.

Bei meiner Ausbildung als Physiotherapeutin hatte ich mein erstes Praktikum in einer Klinik. Dort erfuhr ich zufällig, dass der ehemalige Trainer immer noch an einer Schule tätig ist und dort auch Judounterricht gibt. Da fing es an mit den Panikattacken.

Ich wusste immer, was damals passiert war. Aber ich hatte deswegen nie geweint. Meine Eltern fragten mich, ob ich weiter ins Judo gehen möchte. Ich bejahte, weil da meine Freunde waren. Und somit war das abgeschlossen. Da wurde nicht mehr groß darüber geredet. Als ich dann wirklich starke Panikattacken bekam und mich danach immer übergeben musste, wusste ich nicht, woher das kam. Das war zeitweise so extrem, dass mich das ausgeschaltet hat. Ich habe oft geschrien und kam da gar nicht raus. Ich nahm stark ab, weil ich nichts mehr essen konnte. Dadurch fiel mir der Sport immer schwerer, den hatte ich ja weitergemacht, weil ich mir das Judo nicht kaputtmachen lassen wollte.

Eine Therapeutin stellte fest, dass ich eine posttraumatische Belastungsstörung mit depressiven Episoden und dissoziativen Zuständen hatte, die mit Selbstverletzung einhergingen. Durch sie lernte ich Techniken, damit umzugehen.

Ich habe dann selbst als Trainerin angefangen. In der Trainer-Ausbildung gab es auch das Thema sexueller Missbrauch. Das wurde relativ kurz bei uns angeschnitten: Es ging eher darum, aufzupassen, dass man als Trainer nicht quasi aus Versehen wegen sexuellem Missbrauch oder Übergriffigkeit angeklagt wird. Aber wichtig wäre doch, darüber zu sprechen, was ist, wenn man jemanden trainiert, dem das passiert ist? Wenn jemand sich unwohl fühlt? Wie kann ich einfühlsam mit sowas umgehen? Wie helfe ich den Leuten? Und wie schaffe ich es, dass sie mir so vertrauen, dass sie mir Übergriffe von anderen erzählen würden.

Ich beschloss, mit meinen Trainer-Kollegen über den Missbrauch zu sprechen und sie zu sensibilisieren, da wir ja auch zusammen trainierten. Einmal hielt ich beim Bodenkampf einen der Kollegen im Haltegriff fest. Und da sagte er: „Die Position gefällt mir sehr gut, aber nicht auf der Judomatte.“

Ich verstand überhaupt nicht, warum er das in dem Moment gesagt hat, obwohl ich doch vorher von dem Missbrauch berichtet hatte. Mir wurde klar, dass viele Menschen überhaupt nicht wissen, was man da mit sich rumschleppt und nicht einschätzen können, wie sehr das dann trifft.

Mein Wunsch wäre, dass mehr hingeschaut wird und dass sich mehr Frauen dafür einsetzen und offen darüber sprechen. Da wird so viel totgeschwiegen. Es gibt im Sport ältere Männer, denen will man das gar nicht mehr erklären, die machen dann einfach dicht. Die haben so ihren Weg und ihre Vorstellung. Dann kommen sexuell anzügliche Witze, die man nicht witzig findet und dass verstehen die überhaupt nicht.

Ich weiß, dass es wahrscheinlich sehr viele gibt, die betroffen sind, aber sich nicht trauen, darüber zu sprechen. Das ging mir ja genauso. Ich denke, während der Zeit der Übergriffe und auch danach wäre eine weibliche Trainerin oder ein älteres Mädchen als Vertrauensperson hilfreich gewesen. Vielleicht hätte ich mich schneller anvertraut.

Ich wurde auch deswegen Trainerin, weil ich hoffe, dass ich mit dem, was ich erlebt habe, anderen helfen kann, damit ihnen das nicht passiert.