Die Geschichten auf diesem Portal enthalten Schilderungen, die verstörend wirken können. Einige Worte oder Beschreibungen können negative Erinnerungen und unangenehme Gefühle auslösen. Falls Sie das Bedürfnis haben, mit jemanden darüber zu sprechen, nutzen Sie bitte die Angebote zur Beratung & Hilfe.
Meine Eltern wurden Zeugen Jehovas, als ich sehr klein war. Da die Zeugen Jehovas den alleinigen Wahrheitsanspruch erheben und Mitgliedern der Organisation vertrauen, die im Namen Gottes das Beste für sie wünschen, gibt es eine sehr große Vertrauensbasis. Man vertraut nicht auf seinen eigenen Verstand, sondern auf den Rat Gottes für Frieden in der Gemeinde. So haben Pädokriminelle ein leichtes Spiel.
Ich war circa fünf Jahre alt. Wir wohnten in einem Haus am Waldrand mit mehreren Schuppen. Sonntags besuchten uns oft viele Glaubensbrüder. Unter anderem war da auch ein junger Erwachsener. Er war zunächst sehr freundlich zu mir. Irgendwann nahm er mich mit in ein kleines Spielhäuschen, das sich auf dem großen Gelände befand. Er nahm mich und setzte mich auf die Seite rechts neben ihm. Er streichelte mich an meinen Genitalien und fragte mich, ob das nicht ein schönes Gefühl sei, was ich bejahte, mir aber dennoch unheimlich vorkam. Dann öffnete er seine Hose und bat mich, sein Glied anzufassen. Ich habe dieses Bild noch vor Augen. Er wiederholte, dass ich das ja auch schön finden würde, und ermahnte mich, es nicht weiterzusagen. Ich glaube, das passierte ein oder zwei Mal. Doch es ging mir damit nicht wirklich gut. Ich hatte ein komisches Gefühl. Ich ging zu meiner Mutter, die noch relativ neu in der Religionsgemeinschaft war, und erzählte ihr alles. Ich hatte Angst davor, Ärger zu bekommen, weil ich ja beteiligt war. Dann haben meine Eltern darüber mit den Ältesten der Versammlung gesprochen. Heute weiß ich, dass man den jungen Mann damals ermahnte, und das war’s. Man wollte keine Schande über die Religionsgemeinschaft bringen. Nicht einmal seine Eltern erfuhren es, weil sie bekannt dafür waren, ihre Kinder zu schlagen.
Heute weiß ich auch, dass meine Eltern mich nicht wirklich beschützt haben.
Meine Mutter sagte dann zu mir: „Das macht der nicht noch einmal. Und wenn er es versucht, dann sage es mir sofort.“ Aber niemand schaute darauf, was es mit mir machte. Ich fühlte mich schlecht, weil ich diesen Mann verpetzt hatte. Über Jahre begegnete er mir in den Gottesdiensten. Ich hatte immer ein schlechtes Gefühl, war aber unfähig, es zu realisieren. Ich fühlte mich schuldig. Heute weiß ich, dass diese Erfahrung wahrscheinlich ein Ursprung dafür war, dass ich mich lieber verletzen lasse, als mich zu wehren. Weil ich Angst habe, andere zu verletzen. Heute weiß ich auch, dass meine Eltern mich nicht wirklich beschützt haben ‒ im Namen der Religion. Irgendwann verließ der Mann die Zeugen Jehovas, was mich sehr erleichterte.
Im Namen der Nächstenliebe heißt es Verzeihen. Und das wollte ich. Als dieser Mann einige Jahre später wieder zurückkam, wollte ich alles vergessen und verzeihen. Dieser Mann freundete sich sogar mit meinen Kindern an. Später habe ich erfahren, dass ich nicht die Einzige war, die er anfasste, und dass auch andere Kinder betroffen waren. Ich würde gerne wissen, was ich heute tun kann, um Kinder konkret zu schützen. Da ich aus der Religion ausgeschlossen bin, habe ich dazu keine Möglichkeit.
Erst jetzt, mit über 50 Jahren, wird mir Einiges bewusst. Ich war mein ganzes Leben lang in einer Opferrolle. Doch mein Partner und Psychologen haben mir geholfen, vieles für mich zu entschlüsseln. Heute weiß ich, dass Kinder so einem Mann niemals mehr hätten begegnen müssen. Mir aber wurde beigebracht, dass Verletzungen im Leben normal seien. Heute weiß ich, dass mein Wert höher ist. Es hilft mir zu verstehen und aus dieser Opferrolle herauszukommen. Und genau deshalb möchte ich diesen Bericht weitergeben.
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