Da ich selbst Opfer von sexuellem Missbrauch mit zwei verschiedenen Tätern der Zeugen Jehovas wurde und sich bis heute niemand mit der Aufklärung beschäftigt hat, möchte ich gerne meinen Anteil daran leisten. Ich selbst bin als Zeuge Jehovas aufgewachsen. Später diente ich als Ältester und baute mehrere Gemeinden im In‐ und Ausland auf. Daher sind mir die Vorgänge innerhalb der Ältestenschaft bekannt. Seit einigen Jahren bin ich kein Zeuge Jehovas mehr.

Als Kind wurde ich von einem Freund der Familie und Dienstamtgehilfen über Jahre hinweg sexuell missbraucht. Er drohte mir, falls ich es erzählen würde, dass mir keiner glauben würde und ich schwere Sünde begangen hätte. Dadurch würde ich alles verlieren, was mir lieb und teuer wäre. Familie, Freunde, Glaubensgemeinschaft. Natürlich war ich mir kognitiv bewusst, dass es nicht stimmte, und dennoch hielt ich mich zurück, mit meinen Eltern zu sprechen. Da er als vertrauenswürdig und vorbildlich in der Gemeinde galt, kam niemand auf die Idee, dass er pädophile Neigungen hatte und auslebte. Im Gegenteil. Viele Kinder der Zeugen Jehovas und Jugendliche wurden am Wochenende unter seine Obhut gestellt. Wir gingen abwechselnd ins Schwimmbad oder zum Schlittschuhlaufen. Manchmal auch ins Kino. Selbst an öffentlichen Orten ließ er sich nicht abhalten, mich sexuell zu stimulieren. Ob er an anderen Kindern das Gleiche verübt hat, habe ich bis heute nicht erfahren, da Zeugen Jehovas sich dazu selten äußern. Sexuellen Missbrauch öffentlich zu machen, gilt als Schande gegenüber Gott Jehova.

Erst Jahre später bat er mich unter Tränen um Vergebung. Es tat ihm aufrichtig leid. Ab diesem Zeitpunkt habe ich ihn nicht mehr gesehen. Ich selbst habe mich erst mit 19 Jahren getraut, meinen Missbrauch zu äußern. Damals bat ich um ein Hirtengespräch mit dem damaligen Bethelaufseher. Er zeigte sich mitfühlend und verständnisvoll. Er erkundigte sich nach der Akte des Täters und erfuhr, dass er aus seiner Gemeinde ausgeschlossen wurde. Damit war der Fall für ihn im Grunde erledigt. Nach einigen Tagen sollte ich wiederkommen. Da erklärte er mir, dass er eine gute Nachricht für mich habe: Ich dürfe im Bethel weiterarbeiten. Das war wie ein Schlag in mein Gesicht, mit dem ich überhaupt nicht gerechnet hatte. Ich war mir nicht bewusst, dass dies zur Debatte stand, da ich doch Opfer und nicht Täter war. Ich habe Monate gebraucht, das für mich zu verarbeiten.

Ich habe Monate gebraucht, das für mich zu verarbeiten.

In all dieser Zeit gab es keine weiteren Gespräche, Unterstützung psychologischer Art oder einen Hinweis, dass ich es der Polizei melden solle. Es wurde einfach unter den Teppich gekehrt. Dazu kam, dass ich mir immer die Frage stellte, ob auch andere Kinder außerhalb der Gemeinschaft davon betroffen waren. Diese Frage stellte sich die Wachtturm‐Gesellschaft oder eine Ältestenschaft nie. Denn es geht nur um den Schutz der Organisation und nicht um das einzelne Opfer.

Als ich mit 16–18 Jahren zur Berufsschule meinen Unterricht in einer anderen Stadt verbrachte, lud mich ein Bekannter und Zeuge Jehovas ein, bei ihm zu übernachten. Ich freute mich über den Kontakt, zumal die Berufsschule nur wenige Minuten entfernt war. Eines Abends beim gemeinsamen Filmschauen überfiel er mich und missbrauchte mich sexuell. Ich wäre körperlich in der Lage gewesen, mich zu wehren, allerdings war ich psychisch so geschockt, dass ich alles über mich habe ergehen lassen.

Ich behaupte heute, dass die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas ein Pädophilen-Paradies darstellt, in dem jeder Täter geschützt wird und sich frei bewegen und von Gemeinde zu Gemeinde sein Unwesen treiben kann. Mehr noch, mir scheint, dass Pädophilie wohl nicht ohne Grund so unter den Teppich gekehrt wird. Sonst würde es einfache, leichte Regeln zum Schutz der Kinder oder Opfer geben. Durch die Zwei‐Zeugen-Regel, die angeblich biblisch begründet ist, ist der Schutz im Zweifelsfall immer beim Täter und niemals beim Opfer. Kaum ein Missbrauchsopfer wird in der Lage sein, zwei Zeugen einer bestimmten Tat aufzuzeigen. Die wenigsten sind bereit, darüber zu sprechen, weil die Repressalien und die Angst zu groß sind. Niemand will sein Umfeld verlassen müssen.

Ich hoffe diese Zeilen helfen bei der Aufarbeitung. Ich freue mich, wenn ich dazu beitragen kann, dass künftig mehr Opfer geschützt sind und die Heuchelei einer Organisation ans Licht gebracht werden kann.